: Alles andere als eine heile Welt
■ Kinderkino als Abbild der Wirklichkeit? — Ein Überblick über das Angebot des diesjährigen „KinderFilmfestBerlin“
Die Welt ist aus den Fugen geraten. An den Rändern Europas brennt es, und im Zentrum kippt die Wohlstandsgleichung mehr und mehr. Das spiegelt sich in den Kinderwelten wider. Obwohl beim diesjährigen Kinderfilmfest von den europäischen Filmen kein einziger in der Gegenwart spielt, ist bei allen – außer den deutschen Beiträgen – diese Beunruhigung präsent. Tod, Ausgrenzung und Einsamkeit kennt jedes der Kinder, die entweder in ungemütlichen Großstädten oder in einer wenig idyllischen Natur leben. Das bedeutet aber nicht, daß es keine Hoffnung mehr gibt. Lösungen sind zwar nirgends in Sicht, wohl aber vage Ansätze, daß es vielleicht anders werden könnte.
Am Ende von „Wie ein Boot ohne Wasser“ (Dominique Ladoge, Frankreich 1992) fahren Fabien und seine Familie weiter. Wahrscheinlich werden sie an ihrem nächsten Standort seßhaft werden. In einem Wohnwagen leben sie, der Vater ist Vorarbeiter und zieht alle paar Monate zu einer anderen Baustelle. Fabien findet schwer Anschluß in der immer wieder neuen Umgebung. Von seinen Klassenkameraden wird er gemieden. Freunde findet er nur unter den anderen, die auf „Booten mit Rädern“ leben – den Zigeunern. Die Schwachen sind aber nur in ihrem Ausgegrenztsein gleich, sozialer Status und Hautfarbe machen ein Zusammenwachsen unmöglich. Ladoge hütet sich vor jeder Outcast-Romantik. Obwohl in den Sechzigern angesiedelt, hat die eindringlich erzählte Geschichte beklemmende Aktualität.
Um eine Ausgrenzung noch existenziellerer Art geht es in dem wohl wichtigsten Beitrag dieses Jahres, „Engelchen mach' Freude“ (Usman Saparov, Turkmenistan 1993). Aus einem turkmenischen Dorf werden während des zweiten Weltkriegs alle deutschstämmigen Bewohner deportiert, die Kinder – von ihren Eltern getrennt – in Waisenhäuser gebracht. Ein Junge kann den Milizen entkommen. Er schlägt sich durch in dem menschenkahlen Dorf, wird Zeuge von Verfolgung und Tod. Schonungslos beschreibt Saparov die Zerstörung des friedlichen Nebeneinanders verschiedener Nationalitäten in einer Dorfgemeinschaft. Die schleichenden Mechanismen, die zum von oben verfügten Haß führen, deckt er mit lakonischem Blick auf unscheinbare Ereignisse auf. „Wir kennen keine andere Art, einen Menschen zu beerdigen“, sagt der alte Turkmene, als während der Bestattung eines deutschen Kindes die Miliz auftaucht und Verrat wittert. Dennoch wirken die Repressalien.
Im Vordergrund steht nicht das Geschehnis, sondern seine Auswirkungen. Minutiös und ganz ohne Schockeffekte zeigt Saparov den langsamen Genozid. Die Parallelen zu heute brauchen nicht herbeiinterpretiert zu werden, sie drängen sich auf. Ein brisanter Film, der hoffentlich im allgemeinen Festivaltrubel nicht so untergeht wie 1991 der vietnamesische „Wanderzirkus“.
Auch der zweite Streifen aus der ehemaligen Sowjetunion („Komm zurück, Lumumba“, Estland 1992) spielt in der Vergangenheit. Er beschreibt das Leben eines 15jährigen Jungen in einer estnischen Kleinstadt in den Sechzigern. Regisseur Aare Tilk packt seinen dokumentarisch fotografierten Erstling randvoll mit großen Themen: Verlust der Mutter, die Unfähigkeit des Vaters, mit der Trauer umzugehen, neu entstehende Freundschaft, erste Liebe, ein Bombenfund – alles überlagert vom propagandadurchfluteten Alltag. Obwohl das zum Teil etwas zusammengestückelt wirkt, wirft der Film einen behutsamen, nie überzeichnenden Blick auf eine Kleinstadtpubertät in der poststalinistischen Ära.
Die Gegenwart zeigen nur zwei Filme, die beide nicht aus Europa kommen. Auch hier ist die Welt alles andere als heil.
In „Das Stiefelchen“ (Regie: Mohammed Ali Talebi, Iran 1992, außer Konkurrenz) existiert der Vater nur als Foto auf einem Sims in der Wohnstube. Man kann annehmen, daß er umgekommen ist (vieleicht im Krieg gegen den Irak?), ausgesprochen wird es nie. Die Mutter muß sich und ihre kleine Tochter als Akkord-Schneiderin durchbringen. Es wird eine ärmliche, freudlose Stadt vorgeführt, in der jeder nur schaut, wie er über die Runden kommt. Der Junge vom Ende der Straße hat nur ein Bein, und die Nachbarin steckt für einen Hungerlohn Papierblumen zusammen. Talebi konstatiert nur – in fast farblosen, neoralistischen Bildern, die sich jede Poesie der Armseligkeit verbieten. Der knallrote, billige Gummistiefel, dessen Verschwinden der Geschichte den Faden gibt, wirkt in dieser grauen Welt wie eine Glücksverheißung.
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Fortsetzung
Auch „Ein Brief vom Himmel“ (Wang Junzheng, VR China 1992) zeigt ein erstaunlich kritisches Gegenwartsbild. Der Westen stößt mit dem Osten zusammen, Konsumglück versus echte Zuneigung. Chenchens Mutter hat jahrelang in Europa gelebt. Sie bricht mit ihrer Rückkehr in ein intaktes Beziehungssystem zwischen Großvater und Enkel. Die Werte, die sie von der „ersten“ Welt übernommen hat, versucht sie auf ihre Familie zu übertragen. Das erregt den Widerstand des Jungen. Technizistisches Spielzeug kann die unfeinen Haustiere nicht ersetzen. Nur mühsam nähern sich Mutter und Sohn an. Die erreichte Harmonie ist nur der Anfang eines Weges, nicht glückliche Auflösung: Der Großvater stirbt am Ende. Der Tod überschattet wieder einmal den Traum von der unbeschwerten Kindheit.
In „Vinaya“ (Peter von Kraaij und Josse de Pauw, Niederlande/ Belgien 1992) ist es die alte „Meme“, die stirbt. Weil es der Enkel nicht schafft, sie alleine unter die Erde zu bringen, will er denjenigen zu seinem Blutsbruder machen, der ihm dabei hilft. Ein Landstreicher wird das unfreiwillige Objekt dieses Schwurs. Vinaya heftet sich mitwandernd an seine Fersen, hin zu einer kratzbürstigen Freundschaft.
Alles in diesem Epos aus der Niemandslandschaft ist irgendwie verrätselt. Jedes Bild soll als Zeichen dastehen. Der Zuschauer darf selbst entschlüsseln. Bloß macht die verquaste Blut- und Boden-Geschichte darauf überhaupt keine Lust. Latente Erotik zwischen Knaben und Mann schwingt untergründig immer mit. Da sie jedoch nie thematisiert wird, bleibt es bei schwüler Popo-Beschau beim Flußbad. Ein unverdauliches Gebräu aus bildgewaltig aufgebauschten Geheimnissen, die kaum mehr als mystischer Mumpitz sind.
Da sind Japsers Phantasiewelten weitaus stimmiger. Auch sein bester Freund, ein alter Fischer, ist gestorben. Da ihm niemand beim Umgang mit dem Tod hilft, findet er eigene Wege, mit dem „Land der Unbekannten“ umzugehen. „Das kahle Gespenst“ (Brita Wiepolska, Dänemark 1992) mischt Fantasy und Abenteuer, komische Randfiguren und punktgenaue Übersetzungen kindlicher Befindlichkeiten. Der Film bleibt in einer wunderbaren Schwebe. Das sensible Eintauchen in den kindlichen Umgang mit Ausnahmesituationen ist eingebettet in die fast märchenhafte Darstellung der geheimnisträchtigen Ereignisse eines nördlichen Sommers.
Das dänische Kinderkino beweist hier wieder einmal seine Vorrangstellung in Europa. Durch eine gezielte Förderungspolitik des Familienfilms bis hinein in die Abendvorstellungen der Kinos ist in den letzten Jahrzehnten ein Boden entstanden, auf dem reihenweise Filme sprießen können, die für Kinder wie Erwachsene gleichermaßen interessant sind. Das kann man von Deutschland nicht behaupten. Aus seinem Eckensteherdasein kam der Kinderfilm nur ganz selten heraus. Nachdem mit dem Niedergang der Defa auch die beachtliche Kinderfilmtradition der DDR den Bach hinunterrann, ist das Land zumindest in der Kinderfilmödnis wiedervereinigt. Die unverständliche Einladung von gleich zwei heimischen Produkten, die vom sonst dieses Jahr außerordentlich hohen Niveau deutlich abweichen, kann man daher nur als den Versuch sehen, die Klüfte klar aufzuzeigen, die zwischen der Heimat und dem Rest der Kinderfilmwelt klaffen. Rolf Losansky drehte zwar zu DDR-Zeiten eine Reihe beachtlicher bis guter Kinder- und Jugendfilme („Moritz in der Litfaßsäule“, DDR 1983), aber die hierzulande leider zwangsläufige Gleichung einmal Kinderfilmer, immer Kinderfilmer, hat auch ihn auf Märchenonkel-Niveau hinuntergezogen.
Sein diesjähriger Festivalbeitrag „Zirri und das Wolkenschaf“ ist beredtes Beispiel dafür, wie Kinderfilm nicht sein soll. Hier ist die Welt schön säuberlich in schwarz und weiß eingeteilt: Stadt gleich schlecht, Land gleich gut. Die properen Großeltern – Opa Schäfer, Oma pfiffige Hausfrau mit Yogaambitionen – leben natürlich im grünen Idyll, während die gestreßten Eltern in der baumlosen Baumstraße im Plattenbauviertel zu Hause sind. Und das herzige Mädchen Christine verhilft einem wegen Umweltdreck vom Himmel gefallenen Wolkenschäfchen wieder zurück ins Firmament. Das alles ist vollgepackt mit anspruchsseligen Klischees, tümelnd bis zum letzten rotbackigen Kindergesicht. Ein gegenwartkritisches Märchen, das sich an Zuschauer ab fünf wendet, braucht unbestritten einfache Erzählstrukturen und eine auf Versöhnlichkeit ausgerichtete Geschichte. Moralinsaure Tantenhaftigkeit beinhaltet dies aber nicht zwangsläufig.
Juraj Herz geht in die „Die dumme Augustine“ (BRD 1992) den umgekehrten Weg. Seine Welt ist nicht schwarz-weioß, sondern gänzlich rosarot. Um ja nicht das minderwertige Kinderlabel aufgeklebt zu bekommen, kleistert er seine Zirkusgeschichte zu mit geschmäcklerischen Bildern, die mit dem Inhalt recht wenig zu tun haben. Auch sonst wird nichts ausgelassen: Zeitraffer und Zaubertricks, Slapsticks und Stummfilmgroteske. Eine endlose Abfolge technisch auf Tempo getrimmter Clownsstückchen, die eher ermüdet als erheitert. Die dünne Geschichte von der Dummen-August-Gattin, die auch mal selber im Rampenlicht stehen will, ist nur der Vorwand, um pseudopoetisches Zirkusgetue farbenprächtig auf die Leinwand zu bringen. Das roncalliselige Spektakel wurde gerade mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet. Das spricht Bände über das Verständnis von Familienfilm hierzulande.
Auffällig ist bei allen Filmen der Umgang mit den Geschlechterrollen. Vorbei sind die Zeiten emanzipierter Mütter und Väter im Männlichkeitskonflikt. Wenn die Familie überhaupt mehr als einen peripheren Platz einnimmt, was im Kinderfilm der letzten Jahre immer seltener der Fall ist, dann herrscht das Rezept vor: Mutter ist der gute Hausgeist. Außerdem stehen in nur zwei der neun Filme Mädchen im Mittelpunkt der Geschichte. Aber das ist im „großen“ Film auch nicht viel anders, und da verliert schon längst keiner mehr ein Wort darüber. Gerd Hartmann
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