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„Eine Kolonisation großen Stils“

Was haben die Vereinten Nationen in Kambodscha erreicht? Nichts, meint der Schriftsteller Lek Hor Tan  ■ Interview: Uta Ruge

Als 19jähriger hatte Lek Hor Tan im Jahr 1963 Kambodscha verlassen. In den folgenden Jahren studierte er in Hawaii, Paris und London, wo er seit 1968 lebt. 1973 veröffentlichte er gemeinsam mit Malcolm Caldwell – der 1978 in Kambodscha unter noch ungeklärten Umständen ermordet wurde – das Buch „Cambodia in the Southeast Asian War“. Lek Hor Tan ist seit 1977 Asien-Referent bei bei der britischen Zeitschrift „Index on Censorship“. Nachdem im Oktober 1991 die ehemaligen Bürgerkriegsfraktionen des südostasiatischen Landes ein Friedensabkommen unterzeichneten und fünf Monate später die UNO-Übergangsverwaltung (UNTAC) in Kambodscha ihre Arbeit aufnahm, kehrte Lek Hor Tan im September 1992 im Auftrag der UNESCO für drei Monate nach Kambodscha zurück – zum ersten Mal seit 29 Jahren.

taz: Was war Ihre Aufgabe in Kambodscha?

Lek Hor Tan:Ein Teil des Friedensabkommens beinhaltet, daß Kambodscha wieder zu einem Rechtsstaat werden soll. Daß heißt, es geht nicht nur darum, die Menschenrechte durchzusetzen, sondern zunächst einmal wieder ein geregeltes Justizsystem und Rechtswesen aufzubauen. Das Projekt, in dem ich beschäftigt war, hieß „Menschenrechtserziehung“. Die alles durchdringende Angst in diesem Land hat auch damit zu tun, daß es keinerlei Rechtssicherheit gibt. Allgemein gesprochen waren wir dafür da, Experten im Justiz- und Erziehungswesen auszubilden bzw. die zukünftigen Ausbilder in diesen Bereichen.

Unsere erste Aufgabe jedoch war die Überprüfung aller Gefängnisinsassen: ob es sich um politische Gefangene handelte oder nicht. In den allermeisten Fällen gab es keinerlei Akten über sie, sie waren nie angeklagt, geschweige von einem ordentlichen Gericht verurteilt worden. Deshalb ließen wir sie fast alle frei, Tausende – und natürlich ist der Vorwurf gerechtfertigt, daß darunter auch Hunderte von gewöhnlichen Kriminellen waren. Viele meinen, daß dies auch die vielen Psychopathen erklärt, die auf den Straßen Kambodschas mit Waffen herumfuchteln.

Ist das auch Ihre Auffassung?

Ja und nein. Um des Prinzips willen – im Zweifel für den Gefangenen zu entscheiden – mußten wir riskieren, Schuldige freizulassen. Aber die Gewalt ist in Kambodscha natürlich eine sehr viel tieferliegende Krankheit, vor allem bei den jungen Menschen.

In welcher Situation befindet sich die Jugend Kambodschas?

Die 22 Jahre Krieg haben Schreckliches in der Psyche der Menschen angerichtet. Diese Jugendlichen haben als Kinder gesehen, wie ihre Eltern oder Nachbarn für ein falsches Wort verhaftet wurden oder gleich den Schädel eingeschlagen kriegten. Die Linie zwischen Leben und Tod ist zu dünn geworden.

Ich habe da sehr traurige und beängstigende Fälle kennengelernt und erlebt – zum Beispiel die drei erwachsenen Töchter, die ihre 60jährige Mutter gemeinsam umbringen, weil sie nicht länger auf das Erbe, 20 Unzen Gold, warten wollen. Oder der Kellner, der den Koch in unserem Restaurant erschießt, weil der ständig die Bestellungen falsch verstand. Und da es keine funktionierende Justiz gibt, kann jeder durch Bestechung seiner Strafe entgehen.

Viele Kambodschaner haben mir in Gesprächen einen erschreckenden Haß gegenüber dem eigenen Volk ausgedrückt. Wer als Buddhist an die Reinkarnation glaubt, betet, daß er nicht als Kambodschaner wiedergeboren wird.

Welchen Einfluß hat in dieser Situation die Präsenz der 21.000 UN-Soldaten und Berater?

Leider keine gute – im Gegenteil. Sie müssen sich das als eine Kolonisation großen Stils vorstellen, und nur wenige der UN-Leute haben Kenntnisse genug und ein Fingerspitzengefühl für die Kultur, in der sie sich bewegen. Vor allem die Soldaten sind ein Teil des Problems geworden. Es geht hier ja um Menschen aus über 100 Ländern, aus Uruguay, Marokko, Ghana, die entsprechend ihrer Quotierung Personal geschickt hatten, oft Leute, die vorher nicht einmal wußten, wo Kambodscha liegt. Viele treten auf mit der ganzen Arroganz ihres Unwissens, nach dem Motto: Ich bin hier die UNO, ich sage, wo es langgeht.

Absolut skandalös sind allein schon die UN-Gehälter. Jemand wie ich kriegt sieben- bis achttausend Dollar im Monat. Ein Kambodschaner schätzt sich glücklich, wenn er einen Dollar pro Tag, also 30 Dollar im Monat verdient. Für ein Mittagessen gibt man in einem teuren Restaurant 10 oder 12 Dollar aus – eine absolut groteske Summe. Die Leute geraten deshalb in eine Art Goldrausch, wieviel Geld sie an den UN-Leuten verdienen können.

Hinzu kommen die vielen Prostituierten. Die Mehrheit ist aus Vietnam, aber auch viele Kambodschanerinnen haben in der Sex- Industrie zu arbeiten angefangen. Für sie sind die 20 Dollar Tagesverdienst für 10 oder 12 Männer die einzige Alternative zu dem unsicheren Dollar pro Tag, für den sie sich ansonsten halb totschuften müßten.

Und das UN-Personal besteht fast überwiegend aus Männern...

Ja, und dadurch gibt es ein sehr ernstes Problem der sexuellen Belästigungen. Soldaten aller Länder benehmen sich wohl überall so. Sie leben gefährlich, und wenn sie frei haben, betrinken sie sich und gehen ins Bordell, wo sie, gemessen an ihrem Sold, fast nichts bezahlen. Alle Frauen um sich herum behandeln sie dann wie billige Prostituierte. Auch in den UN-Büros ist das der Fall. Diese Typen greifen sich jede Frau, die an ihnen vorbeigeht, begrabschen Hintern und Brüste und versuchen, sie zu küssen. Selbst den Sekretärinnen aus Genf und New York passiert das.

Für die Kambodschaner ist die UNO und ihr Geld eine große Versuchung, nach all den furchtbaren Jahren schnell zu einem besseren Leben zu kommen. Selbstwertgefühl besitzt ohnehin keiner mehr. Und dann diese Warenschwemme: Armbanduhren, Videorecorder, schöne Kleidung, Schmuck, Make-up – alles liegt in den Schaufenstern und wartet auf dich.

Ich habe viele Männer gesehen, die ihre Ehefrauen auf dem Rücksitz des Mopeds jeden Abend um sechs zu den Discos und Nachtclubs bringen, wo sie als Animiermädchen alles mögliche über sich ergehen lassen müssen. Um Mitternacht werden sie von ihren Männern wieder abgeholt, schwingen sich auf die Mopeds und fahren zurück in ihre kleinen Holzhäuschen.

Zur Zeit sind die Politiker in Kambodscha am populärsten, die kräftig antivietnamesische Töne anschlagen. Was sind die Gründe hierfür?

Das Problem der Vietnamesen in Kambodscha hat eine lange Geschichte. Kambodscha war einst ein großes imperiales Reich, und bis ins 18. Jahrhundert gehörte dazu fast ein Drittel des heutigen Vietnams. Das Mekongdelta-Gebiet, was wir heute den Süden Vietnams nennen, gehörte zu Kambodscha. Auch heute leben dort noch mehrere Millionen ethnische Kambodschaner. Dann bekriegten sich die vielen kambodschanischen Prinzen jedoch heftig, verloren große Gebiete an Thailand und Vietnam. Wenn das Land im 19.Jahrhundert von den Franzosen nicht kolonisiert worden wäre, wäre es vermutlich ganz von der Landkarte verschwunden. Die Franzosen machten nach dem „Teile und herrsche“-Prinzip Vietnam zur Kolonie und Kambodscha zum Protektorat. In Kambodscha setzten sie Vietnamesen als Administratoren ein und holten auch für die großen Gummiplantagen vietnamesische Arbeiter. Insofern herrschten schon bis zur Unabhängigkeit 1955 gewissermaßen Vietnamesen über Kambodscha.

Es gab etwa 500.000 Vietnamesen zu der Zeit, und die meisten von ihnen nahmen, wie auch die meisten der hier lebenden Chinesen, die kambodschanische Staatsangehörigkeit an. Problematisch wurde dann, daß weder Süd- noch Nordvietnam die Grenzen mit Kambodscha anerkannten und daß es daher ständig Grenzverletzungen und Schußwechsel gab. Mit dem Vietnamkrieg wuchsen die Grenzprobleme, da sich der Vietcong teilweise auf kambodschanisches Gebiet zurückzog und dorthin auch verfolgt wurde. Nach dem Putsch Lon Nols im Jahre 1970, der eine sehr rechtslastige Regierung installierte, wurden Tausende Vietnamesen in Pogromen umgebracht, Hunderttausende flohen über die Grenzen. Wer geblieben war, flüchtete, wenn er noch konnte, als 1975 die Roten Khmer an die Macht kamen.

Mit der vietnamesischen Invasion von 1979 kamen viele dann zurück. Ich schätze, daß etwa 200.000 oder 300.000 schlicht in ihre alte Heimat zurückkehrten, mit ihnen aber kamen auch Hunderttausende neuer Siedler unter dem Schutz der immerhin auch schon 200.000 vietnamesischen Soldaten. Viele Kambodschaner sahen dies als Teil eines längerfristigen Expansionsbestrebens an.

Sie müssen sich vor Augen halten: Kambodscha hat nur 8 bis 9 Millionen Einwohner gegenüber den 70 Millionen Einwohnern Vietnams; dabei sind beide Länder etwa gleich groß. Aufgrund der enormen Wirtschaftsprobleme Vietnams ist der Zuzug von Vietnamesen in ein relativ dünn besiedeltes Land, das reich an natürlichen Ressourcen ist und in dem es außerdem diesen enormen Aufschwung gibt, auch ganz zwangsläufig.

Die UNO scheint unfähig, dieser massiven Einwanderung einen Riegel vorzuschieben. Das ist ein wichtiger Grund, weshalb sie in Kambodscha auch so unbeliebt ist und die Roten Khmer mit ihrer antivietnamesischen Rhetorik so populär.

Dadurch, daß die Kambodschaner jetzt Zugang zu den internationalen Medien haben – es gibt sehr gute englischsprachige Zeitungen aus Thailand, wer viel Geld übrig hat, kann sich auch eine Satelliten- Antenne kaufen und damit CNN empfangen, BBC-TV Worldservice und französisches Fernsehen – sind viele Leute heute sehr viel besser informiert. Man hat mehr Zugang zu Informationen durch die ausländische Presse, wenn man die entsprechenden Sprachen beherrscht und das Geld hat. Aber das „globale Dorf“ hat auch seine beängstigenden Aspekte. Der Ausdruck „ethnische Säuberung“ ist durch diese mediale Anbindung sehr schnell ins kambodschanische Vokabular aufgenommen worden. Politische Beobachter befürchten, daß die starken antivietnamesischen Gefühle zu genau so einer Strategie führen könnten. Nicht nur die Khmer Rouge, auch andere politische Parteien sprechen völlig offen davon, daß man die Vietnamesen in Konzentrationslager stecken und deportieren soll.

Leider überläßt die UNO die Kontrolle des Einwanderungsproblems ihren Nachfolgern nach den Wahlen im Mai dieses Jahres. Meiner Ansicht nach ist dies die größte Schwäche des internationalen Engagements in Kambodscha.

Wie reagieren die in Kambodscha wohnenden Vietnamesen hierauf?

Es gibt keine Proteste in der Öffentlichkeit, falls Sie das meinen. Sie selbst haben keine Zeitungen und verhalten sich insgesamt still, wenn ihre Präsenz sonst auch überwältigend ist. Sie können sich kaum vorstellen, wie gespannt die Situation ist.

Viele Vietnamesen in Kambodscha sind natürlich arm und verlegen sich auf Kleinkriminalität, Taschendiebstahl oder ähnliches. Wenn so jemand auf der Straße gefaßt wird, hört man das Geschrei: Er ist Vietnamese, schlagt ihn tot! – Und tatsächlich werden viele auf offener Straße gelyncht. Man hört auch aus den Provinzen von vielen Morden an Vietnamesen. Da ist ein sehr heftiger Rassismus am Werk. Rassismus ist Ausdruck von Haß, und der Haß kommt von Angst. In Kambodscha ist es die Angst, daß man von den Vietnamesen verschluckt wird. Ich prophezeie Ihnen, daß wir nach Abzug der UNTAC von „ethnischen Säuberungen“ in Kambodscha hören werden.

Wird die Vermutung, daß viele der jungen vietnamesischen Fischer und Bauarbeiter in Kambodscha in Wirklichkeit Ex-Besatzungssoldaten sind, die ihre Waffen nur versteckt haben und auf ihre Stunde warten, offen in den Medien Kambodschas diskutiert?

Nein, das ist ein Tabu. Die Regierung ist in dieser Verschwörungstheorie ja selber impliziert, ebenso wie mit der Vernichtung der Archive aus der Khmer-Rouge-Zeit und der ganzen Nicht-Aufarbeitung der Vergangenheit. Die von ihr abhängigen Medien schweigen natürlich. Aber kein Kambodschaner, mit dem ich sprach, hält die Vietnamesen für normale Einwanderer. Da eine Invasionsarmee sie historisch schon zweimal geschützt hat, sind sie im Bewußtsein der Kambodschaner Besatzer und Kolonisatoren.

Aber welche Position nehmen sie tatsächlich in der kambodschanischen Gesellschaft ein?

Für mich war höchst deprimierend zu sehen, daß sich die traditionelle Schichtung der kambodschanischen Gesellschaft nicht verändert hat. Das alte Muster war, daß die Chinesen den Handel und die freien Berufe beherrschten, die Kambodschaner entweder Adlige, Militärs, Polizisten und Beamte sind oder, in der Mehrzahl, Bauern. Sowohl einfache Lohnarbeit als auch Facharbeit wird von den Vietnamesen gemacht. Insofern scheint es heute auch den Vietnamesen in Kambodscha oft besser zu gehen, weil sie Arbeit haben.

Spielen die Intellektuellen in dieser Situation eine Rolle?

Die Intellektuellen Kambodschas haben von allen die größte Angst – und sie haben auch am meisten Grund dazu, denn ihr Beruf ist das Denken. In dieser Kultur des Schweigens und der Angst leben sie seit 22 Jahren. Sie sind froh, daß sie die Roten Khmer und die Vietnamesen überlebt haben, aber sie haben keinerlei Hoffnung auf positive Veränderungen, keinerlei Vertrauen in die derzeit oder demnächst Herrschenden. Daher schweigen sie weiter, damit sie nicht auffallen und auf irgendwelchen künftigen Todeslisten landen. Viele warten nur auf den Moment, in dem sie emigrieren können, und schicken ihre Kinder ins Ausland. Kambodscha ist ein Polizeistaat, in dem Paranoia und Mißtrauen herrschen.

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