Sie sehen mich außerordentlich gepackt!

■ Aus Anlaß des Todes des Philosophen Hans Jonas: ein „Liebesbrief“ des Bremer Hochschullehrers Christian Marzahn

hierhin den alten Herrn

Hans JonasFoto: Jörg Oberheide

Im Alter von 89 Jahren starb am letzten Freitag Hans Jonas. Der weltweit verehrte Religionswissenschaftler und Philosoph, der über die Gnosis, die Philosophie der Biologie und „das Prinzip Verantwortung“ arbeitete, stammt aus Mönchengladbach (Rheinland), schloß sich früh der zionistischen Bewegung an und emigrierte 1933 nach England. Deutschen Boden betrat er erst wieder in britischer Uniform, als Mitglied einer Jüdischen Brigade, bei Kriegsende. In einem schmerzhaften Prozeß setzte er sich bis zu seinem Tod mit Deutschland, dessen Verbrechen (seine Mutter wurde in Auschwitz ermordet) und dessen Zukunft auseinander. Im November 1990 besuchte er auf Einladung der „Philosophischen Gesellschaft Bremerhaven“ zusammen mit seiner Frau auch Bremen. Zu den Gastgebern, deren Herzen er damals für sich entflammen konnte, gehörte der Bremer Hochschullehrer und ehemalige Konrektor Christian Marzahn. Dieser berichtete in der Bremer Uni-Zeitung „BUS“ von der Begegnung in einem, wie Marzahn heute konstatiert, „Liebesbrief“. Die taz dokumentiert in Auszügen.

(...) In Bremen sollte Hans Jonas nicht einen weiteren Vortrag halten (nachdem er in Bremerhaven über Kopernikus, Newton und das moderene Weltbild vorgetragen hatte / d.R.). Die

Idee war, ihm in einem Gespräch mit Fachkollegen Gelegenheit zu geben, seine Vorstellungen über „Wissenschaft und Verantwortung“ zu entwickeln. (...) Klug und kompetent befragt von Hans-Jörg Sandkühler, Rainer Hegselmann und Gerhard Roth sprach Jonas über die Notwendigkeit und Dimensionen einer Zukunftsethik, über eine Heuristik der Furcht und über die Verpflichtung zum Pfad der Vorsicht, über die Objektivität der Subjektivität des Menschen, tief verkannt in der reduktionistischen Seinslehre der modernen Naturwissenschaften, über die Wünschbarkeit der Demokratie und ihre Anfälligkeit in der Krise.

Ich bin fasziniert. Man kann, geht mir durch den Kopf, ein Gespräch vorbereiten, und man kann sich auf ein Gespräch vorbereiten. Aber man kann es nicht planen und nicht machen. Es ereignet sich. Hier ereignete sich ein philosophisches Gespräch, wurde Philosophie lebendig im Gespräch, einem Gespräch auf dem Podium, aber auch zwischen Podium und Publikum, obgleich niemand im Saal das Wort ergriff. Felix Krüll alias Marquis de Venosta hätte gesagt: „Sie sehen mich außerordentlich gepackt durch Ihre Angaben, Herr Professor.“ Ich bin gepackt, und von den Menschen, die rechts und links und hinter mir sitzen, glaube ich zu spüren, daß sie ebenfalls gepackt sind. War auch Hans Jonas gepackt?

Zumindest äußert er nachher beim Mittagessen zufrieden, das Gespräch sei ja „ganz lebendig“ gewesen. (...)

Bereits im allerersten Telefonat hatte Hans Jonas angedeutet, daß seine Frau und er sich darauf freuten, „die alte Hansa- Stadt Bremen“ kennenzulernen. Und so spazierten wir zu viert den ganzen Sonntag vormittag durch das Neue und Alte

Rathaus zu Bremen. (...) In der Böttcherstraße erzählten wir von Bremer Mäzenaten, auch den schillernden, und vom Umgang mit „entarteter Kunst“ im nationalsozialistischen Bremen. Hans Jonas sagt: „Es wird einem ganz anders, wenn man das wieder hört.“ Auch während des Mittagessens im Priölken, als Hans Jonas' Heißhunger auf Steinpilze durch einen bloßen „Auszug“ abgespeist wird, und später in Worpswede kommt das Gespräch auf diese Zeit zurück. Von den Erinnerungen ergriffen und ergreifend und geradezu mimetisch erzählt Hans Jonas von seiner Rückkehr nach Deutschland, im Sommer 1945, in britischer Uniform, und von den Besuchen bei seinen Lehrern Rudolf Bultmann und Karl Jaspers und bei seinem Verleger Ruprecht. — An anderer Stelle sagt er plötzlich: „Man muß mit dem Schwamm des Vergessens darübergehen.“ Wir bleiben verblüfft stehen, schauen ihn etwas unsicher an. Wie meint er das? Lore Jonas sagt: „ Vielleicht nicht mit dem Schwamm des Vergessens, aber mit dem Mantel der Barmherzigkeit.“ Hans Jonas aber stand da und dachte nach und sagte schließlich seht förmlich: „Ich glaube, ich muß das widerrufen.“

Von zehn Uhr vormittags bis abend um neun waren wir unterwegs, um die „alte Hansa-Stadt“ und ihre Umgebung zu erkunden, buchstäblich ohne Pause. Spätestens nach dem Mittagessen war eine Siesta vorgesehen, aber Hans Jonas bestand darauf, noch bei gutem Licht nach Worpswede zu kommen: „Wenn Sie mir gestatten, im Wagen die Augen ein wenig zu schließen, bin ich ganz zufrieden.“ Als wir uns schließlich im Hotel verabschiedeten, sage ich den lieben Gästen, wie gern ich sie wiedersehen möchte. Lächelnd schaut uns Hans Jonas an und sagt: „Auf Wiedersehen.“ Auf Wiedersehen, Hans Jonas. Auf Wiedersehen, verehrte Frau Jonas. Christian Marzahn