: Wendehälse des Feuilletons-betr.: "Der Zeitgeist ist Anarchist", taz vom 6.2.93
betr.: „Der Zeitgeist ist Anarchist“, taz vom 6.2.93
Wenn man Antje Vollmer Glauben schenkt, findet derzeit eine erbarmungslose Treibjagd auf die DDR-Schriftstellerin Christa Wolf statt. Schuld an dieser Treibjagd seien: 1. „das deutsche Feuilleton“ im allgemeinen, 2. und im besonderen aber die Herren Schirrmacher, Reich-Ranicki und Raddatz. Vielleicht bin ich ja taub und blind, aber mir ist von einer solchen Treibjagd bislang nichts aufgefallen. Frank Schirrmacher hat Christa Wolf – jedenfalls was ihre Tätigkeit als „informelle Mitarbeiterin“ der Stasi betrifft – ausdrücklich verteidigt. Marcel Reich-Ranicki hat sich meines Wissens noch gar nicht geäußert. Und Fritz Raddatz hat der von ihm bewunderten Christa Wolf lediglich ein paar unangenehme Fragen gestellt. Wenn das noch nicht einmal erlaubt ist, was darf man dann in der Debatte um Frau Wolf überhaupt noch tun? Vornehm hüsteln? Vielsagend schweigen – aus Rücksicht auf die zarte Konstitution der Dichterin?
Mir fällt etwas ganz anderes auf als Antje Vollmer. [...] Ich sehe, daß diese Dichterin sich jetzt, wo nicht mehr nur lobend über sie gesprochen wird, notorisch mit den Nazi-Opfern, den verfolgten Juden und Emigranten vergleicht. Mag sein, ich bin in diesem Punkt überempfindlich, aber das geht mir schwer auf den Senkel. Es wird oft behauptet, Christa Wolf sei eine äußerst sensible Person – mir kommen ihre Vergleiche eher anmaßend und brutal vor. Wieviel Grausamkeit und Indifferenz verbirgt sich hinter dem Anspruch, immer mit Glacéhandschuhen angefaßt zu werden, welches Gewaltpotential schlummert in der Tiefe solcher Seelchen, denen vor lauter Selbstmitleid offenbar jedes Maß verlorengegangen ist? Dies ist für mich das eigentliche Thema, wenn es um Christa Wolf geht. Ich bitte Antje Vollmer, einen Augenblick lang auch darüber nachzudenken. Hannes Stein, Hamburg
Antje Vollmer sei Dank, daß die skandalösen Verrenkungen unserer feuilletonistischen Machthaber auf den Punkt gebracht sind: nicht Christa Wolfs Autorenschaft steht eigentlich zur Debatte, sondern die Frage nach dem Verhältnis von Biographie und Werk; denn wenn dies als wichtig akzeptiert wird, kann sich jeder Meinungsmacher als Deutschlands oberster Moralist stilisieren, vid. [„siehe“, d.sin] F.J.Raddatz. – So weit waren wir übrigens im Herbst 1990, anläßlich des Romans „Was bleibt“, nur mit eigentlich verkehrten Vorzeichen. Damals kam heraus, daß die Zeit moralischer Lektüre – und mit ihr die der politisch eingreifenden Literatur: Böll, Andersch, Grass und eben einige DDR-Autoren – endgültig vorbei sei; heute heißt es verwunderlich: Wer eingreifende Literatur schreibt, muß sein Leben und seine Akten offenlegen; wer wie Heiner Müller Moral immer von sich gewiesen hat, weil sie nicht Sache von Dichtung sei, darf den Aktendeckel zuklappen. Was bleibt, ist der Eindruck fröhlicher Beliebigkeit: mal so, dann so, wie's stilistisch gerade paßt. Das literarische Feuilleton der Postmoderne trägt Zynismus. Heiner Müller schreibt aber besser. Prof.Dr.Joachim Bark,
Stuttgart
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