: Floskeln gegen Bilder
■ „Pimpf war jeder“, ein Dokumentarfilm von Erwin Leiser im Forum
Nach den Novemberpogromen befragt, erinnert sich einer, wie beeindruckt er von der Vielzahl jüdischer Geschäfte war. Erst danach beeilt er sich, sein Entsetzen zu äußern. Ein anderer sagt: „Im Sport wart ihr ja alle nicht gut. Aber das braucht nichts damit zu tun zu haben, daß ihr Juden seid“. Bei dem Wort Juden zögert er, verheddert sich, verschluckt es fast, als er es doch noch ausspricht. Irgendwie ist ihm unbehaglich dabei, vermutlich, weil der, dem er das erzählt, einer von „denen“ ist. Einer der jüdischen Mitschüler des Abiturjahrgangs '40 am Gymnasium zum Grauen Kloster, Berlin: Erwin Leiser.
Der Dokumentarfilmer hat seine Klassenkameraden von damals nach ihren Erinnerungen befragt, seine drei jüdischen Mitschüler (ein vierter wollte nicht vor die Kamera treten), sich selbst und die anderen. Alte Männer, zu Hause, am Schreibtisch oder im Wohnzimmer, in schweren Sesseln, vor den Zimmerpflanzen. Medizinalräte, Promovierte, Lehrer, ein Rabbiner, gehobene Mittelschicht. Für die einen war es eine glückliche, behütete Zeit, jedenfalls bis zum Wehrdienst kurz vor Kriegsende, für die andern bedeutete sie Verfolgung, Ermordung der Eltern und Geschwister, Emigration.
Durch die Erinnerungen geht ein Riß. Daß die Schüler ihre jüdischen Klassenkameraden auf dem Schulhof schnitten, sie drangsalierten und zwangen, von der gefährlich hohen Mauer zu springen, die das Schulgelände begrenzte, daran erinnern sich nur die Opfer. Die andern beteuern – jeder einzeln – sie hätten ein gutes Verhältnis zu ihren jüdischen Klassenkameraden gehabt. Niemand habe gehetzt. Wir haben es nicht gewußt. Ich habe erst 47 davon erfahren. Der Anblick von KZ-Häftlingen war ein Schock. Die Hitlerjugend war ein besserer Sportverein. Und in den Krieg „bin ich gezogen, weil ich einen schönen technischen Beruf erlernen wollte“. Was hast du im Krieg gemacht? Diese Frage stellten erst die Kinder, zwanzig Jahre später.
Erwin Leiser führt seine Altersgenossen nicht vor, er treibt sie nicht in die Enge, konfrontiert sie nicht mit seinen Erinnerungen an die jugendlichen Hetzjagden, kommentiert nicht. Aber immerhin dokumentiert er den Unterschied zwischen Erinnerung und Erinnerung, hält den Ton fest, in dem die Nichtjuden ihre Unschuld und Naivität beteuern und die Klarheit, mit der er und seine jüdischen Klassenkameraden die Details vor Augen haben. Nachdenklich, manchmal unsicher, fast kindlich halten die alten Männer Verteidigungsreden, Plädoyers in Sachen 'betrogene Jugend'. Gelegentlich bittet einer darum, den ein oder anderen Halbsatz herauszuschneiden. Erwin Leiser hat ihn dringelassen.
Die Nichtjuden suchen nach Worten und halten sich daran fest. Die Juden beschreiben Episoden. Floskeln gegen Bilder. Über ihre Schulzeit reden die Nichtjuden offenbar zum erstenmal. „Wir sind die schweigende Generation“, sagt einer von ihnen, der einzige, der um das Tabu immerhin weiß, an das er sich jahrzehntelang gehalten hat. „Pimpf war jeder“ ist ein fast zu braver Dokumentarfilm. Aber immerhin: ein Dokument über die Verdrängung. Es kann nicht genug davon geben. Christiane Peitz
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