Phlegmatisches System-Opfer

Seit einer mißglückten Operation ist Uwe Hohn, der als erster den Speer über 100 Meter weit warf, teilweise behindert, aber zufrieden  ■ Aus Potsdam Holger Gertz

Ein berühmtes Foto gibt es vom Speerwerfer Uwe Hohn, wie er sich dekorativ auf eine Anzeigentafel stützt. Darauf ist seine Startnummer vermerkt, die 106, und das Resultat seines Versuchs: 04,80 Meter. Vom 20.Juli 1984 ist das Bild, dem Tag, an dem Uwe Hohn, 22 damals und Vorzeigeathlet des Armeesportklubs Potsdam, sein Sportgerät über das ganze Fußballfeld des Berliner Jahn-Sportparks schleuderte, als erster Mensch über 100 Meter weit, genau 104 Meter und achtzig Zentimeter: Weltrekord, eine Ziffer zuviel für die Anzeigentafel. Genugtuung habe er danach empfunden, sagt Uwe Hohn, Genugtuung, weil er wegen des Ostblock-Boykotts nicht zu den Olympischen Spielen durfte: „Da wollte ich den Leuten vorher zeigen, wer der echte Olympiasieger ist.“

Ein paar Wochen später ging die Goldmedaille in Los Angeles für knapp 86 Meter weg, geworfen von einem Finnen namens Härkönen. Von dem spricht heute kein Mensch mehr, von Hohn auch nicht. Einen neuen Speer mit verändertem Schwerpunkt haben sie kurz nach seinem „Jahrhundertwurf“ (Neues Deutschland) eingeführt, seinen Weltrekord aus den Listen gestrichen. Gelegenheit zu neuen Wundertaten hatte er nicht; nach einer mißlungenen Operation gab es nur noch eine Schlagzeile über den Potsdamer: Uwe Hohn, der Invalide.

Es war das plötzliche Ende einer Karriere, in der alles – von der Wiege bis zur Krankentrage – streng reglementiert war, „die Schule, der Sport, die Laufbahn bei der Nationalen Volksarmee“, sagt Hartmut Wolter, seinerzeit Hohns erster Trainer an der Kinder- und Jugendsportschule des ASK Potsdam. Unter Wolters Anleitung warf sich Hohn noch als Halbwüchsiger in die Bestenlisten: Mit 16 übertraf er die 70 Meter, mit 17 die 80 Meter, danach Junioren-Europarekord, Junioren-Europameister 1981, Europameister 1982. Immer sei Uwe eine Klasse für sich gewesen, sagt Hartmut Wolter. Ob sie Volleyball spielten im Training oder Basketball, ob sie Speere warfen oder Kugeln oder Streichhölzer, „der Uwe war einfach unschlagbar. Das Streichholz hat er 30 Meter weit geworfen.“ 30 Meter, ein Streichholz! Mit Kraft allein sei das nicht zu schaffen, sagt Wolter, da müsse der Wurfarm richtig positioniert, die Witterung korrekt eingeschätzt sein, natürlich der Wind. „Das hatte der Uwe einfach drauf, rein gefühlsmäßig, das war sagenhaft.“ Ob diese Fähigkeiten dem Gebrauch von unerlaubten Stimulanzien geschuldet waren, dementieren beide entschieden. Er sei halt ein Supertalent gewesen, ein Sportler, wie es ihn nur alle Jubeljahre einmal gebe, sagt Wolter. Und Hohn sagt, daß es nicht nur Dopingsünder gegeben hätte im Osten, sondern auch regulär erbrachte Leistungen: „Warum sollte ich meinen Körper kaputtmachen mit sowas?“

Ob gedopt oder sauber – danach hat früher selten jemand gefragt, in der DDR genausowenig wie im Westen, wo sie ihn gern auf Abendsportfesten feierten, den „Hünen“ (kicker-sportmagazin) aus Potsdam. Werfend wurde Hohn zum Star, werfend verschaffte er dem Staat Reputation; gesagt, wie es danach weitergehen soll, hat ihm keiner. Hartmut Wolter hat versucht, den Verantwortlichen vom ASK deutlich zu machen, daß Uwe Hohn bestimmt mal Hilfestellung brauchen könnte, wenn es Schwierigkeiten gibt, „aber ich war nicht in der Armee, und da können Sie schlußfolgern, wieviel auf mein Wort gegeben worden ist“.

Die Schwierigkeiten stellten sich bald ein, 1986: Eine Bandscheibenoperation mißlingt, als Folge fällt der Fußheber am rechten Unterschenkel aus. Eine weitere Operation „brachte dem Fuß nichts und noch weitere Instabilität für den Rücken“ (Hohn). Spezialisten aus Frankfurt/Main wollen ihn behandeln. Als Hohn bei DDR-Sportchef Manfred Ewald anfragt, sagt „der gleich überall Bescheid, in der Armee und in der Partei.“ Hohn, SED-Mitglied und inzwischen bei der NVA als Offizier, darf sich nicht behandeln lassen, der Muskel im Unterschenkel stirbt ab. „Das hat ihm einen Knacks gegeben, daß sie so mit ihm umgegangen sind“, sagt Wolter.

Seitdem ist Schluß, nicht nur mit dem Sport. Hohn darf nicht mehr schwer heben, ist berufsunfähig und zu 60 Prozent behindert. Bei der Bundeswehr in Potsdam hat er einen Teilzeitjob, „Essengeld abrechnen und so“. Eine kleine Rente kriegt er, auf Schadenersatz hat er die Ärzte nicht verklagt: „Denen kannst du doch eh keinen Pfusch nachweisen, das hat doch gar keinen Zweck.“ Wortkarg ist er, etwas schwerfällig und keiner, der zu großem Engagement fähig ist, auch nicht in eigener Sache. Schon als Junge habe er immer jemanden gebraucht, der ihn antreibt, sagt Hartmut Wolter; Freunde beschreiben ihn als Phlegmatiker. Vor Jahren hatte ihm der ASK Potsdam eine Stelle als Jugendtrainer angeboten, aber Hohn ging nur halbherzig zu Werke, weil er lieber Erwachsene gecoacht hätte. Bald war die Zusammenarbeit beendet. „Mit etwas mehr Einsatz hätte er mehr aus sich machen können, keine Frage“, sagt Wolter.

Hat er aber nicht. Hohn sagt, daß er auch so ganz gut leben kann; nach einer Kur gehe es ihm so gut wie lange nicht. Mitleid findet er schwülstig und unangebracht: Nachdem die inzwischen erloschene Super-Zeitung über ihn berichtete, „haben Freunde mich gefragt, ob sie für einen Rollstuhl sammeln sollen“. Sonst sind die Verbindungen zu Medien und Sportlern weitgehend gekappt; wenn er heute im Fernsehen die Speerwerfer sich abmühen sieht, gibt ihm das auch keinen Stich mehr. „Damit bin ich durch“, sagt er. Ob er es auch so meint? Beim Gespräch trägt er ein T-Shirt mit dem Aufdruck „USA-Olympiateam 84“, das ihm vor Jahren der amerikanische Speerwerfer Tom Petranoff geschenkt hat. Und seine Autogrammbilder, für die sich ab und an noch ein Interessent findet, signiert er noch immer mit seiner Zahl, die längst schon Makulatur geworden ist: „Uwe Hohn, 104,80“.