: Von Pferden und Menschen
■ Ann Turner im Panorama
Schweineausstellung und Wohltätigkeitsball, Landleben 1910: Die australische Regisseurin Ann Turner hat ein neues Gesellschaftsgemälde fürs Kino geliefert. Im Mittelpunkt steht „Ich, Alan Marshall“: Alan ist eine von Edgar Allen Poes bekanntesten Gestalten — er ist etwa dreizehnjährig, altklug, gehbehindert und dann auch noch mutterlos.
Geschichten über handicapped people stehen noch immer hoch im Kurs; zuletzt nahm Gary Sinise sich John Steinbeck („Of Mices and Men“) vor. Ann Turner läßt nach bewährter Methode den Protagonisten erzählen, vorzugsweise aus dessen dickem Federbett heraus. Die Regisseurin bedient sich reichlich im angestaubten Erzählfilmfundus, aber das schadet in diesem Falle kaum. Alan zum Beipiel will reiten können so wie East, der Stallknecht. Lange zieht die Kamera mit den Reitern übers karge Land. Turner nutzt diese Sequenzen, um schon mal geheimnisvolle Ahnungen heraufzubeschwören: Es ist kalt, neblig, und es knistert — der Stallbursche sprengt durch die Dunkelheit. Dazwischen versucht Alan verzweifelt, sich über das Weidegatter zu schwingen, als wär's ein Pferderücken — vergeblich.
Schnitt zurück zur ländlichen Idylle, in der (natürlich) das gewöhnliche Unglück lauert: Der Dorfschmied verführt ein Dienstmädchen, das schwanger wird und verschwinden muß. „Ein Kind mehr für den lieben Gott“, kommentiert Alan im Tagebuch: Turners beiläufige Ironie ist es, die den Film am Kitsch vorbeimanövriert. Sie läßt Alans Schwester Elsie wütend Suppe auf die Teller klatschen; Vater Marshall fungiert auch schon mal als Kleiderständer, damit seine nähende Tochter die Balltracht einer Dorfmatrone abstecken kann.
Und dann die eigentliche Tragödie: Leidenschaft ist im Spiel und eine starke Frau. Innovativ ist Turners Film nicht gerade, sie dreht das herkömmliche Mann- Frau-Muster einfach um: Es ist die schöne Lady Grace McAlister (Charlotte Rampling), die rastlos über die Erde zieht, sich schließlich in Australien niederläßt, um dort für Alan Mutter zu spielen und das Herz seines reitenden Vorbildes zu betören. Verheiratet ist sie auch noch. „Manchmal liebt man eben zwei“, erklärt Grace dem staunenden Alan. Eine hinreißende Affäre in aller Unschuld — bis der weltoffene Gatte der Lady etwas ahnt und ihr Lover sich (ganz Mann) nicht mehr beherrschen kann. Ein zweiter Behinderter ist das Ende vom Lied — der perfekte Reiter ist vom Pferd gefallen vor lauter strapazierter Liebe. Hier kommt schließlich das sogenannte Weibliche zum Tragen: „I'm so sorry“, haucht die Lady bedeutungsschwanger und sorgt für den gefallenen Jüngling. Zwischen all dem Alan: Anstatt zu reiten schreibt er: das ist weniger gefährlich. „Vielleicht ist Grace überhaupt die stärkste von uns allen“, bemerkt er: Lektionen für kleine Jungs. Friederike Freier
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