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Der Modetorheit Auto widerstehen

Der Verkehr und die Zerstörung der Stadt (13. Folge)/ Wo Berlin lernen kann: Europäische Verkehrsplanung im Vergleich/ Bologna – Musterbeispiel mit Mängeln  ■ Von Hans-Joachim Rieseberg

Italien galt bisher als das Eldorado für Autofahrer. Hier fuhr man die schnellsten Autos, hier herrschte das größte Verkehrschaos, und hier man konnte in jeden Winkel einer jeden Stadt fahren, vorausgesetzt, das Auto war klein genug, um in diesen Winkel noch hineinzupassen. Es wurden keine Ampeln beachtet, die Verkehrsschilder regulierten in der Regel das Gegenteil von dem, was sie besagten, und das italienische Temperament regulierte sogar das chaotische Verkehrsgeschehen. Bis nichts mehr ging, alles stand, die Luft total verpestet war – zumindest in den großen Städten – und den Italienern wahrscheinlich sogar die Lust am Autofahren durch das selbsterzeugte Chaos ausgetrieben wurde. Nun setzte plötzlich eine radikale Veränderung ein. Die Autofetischisten par excellence, die Spaßfahrer, begannen mit den radikalsten Veränderungen im Verkehrsplanungsbereich ernst zu machen.

Bevor man aber das berühmte Beispiel Bologna analysiert, sollte man sich einmal klarmachen, daß in Italien die autoärmste Stadt dieser Erde existent ist: Venedig. Nirgendwo sonst kann man wahrscheinlich die Konsequenzen einer total autofreien Stadt besser erfahren, untersuchen und beschreiben als in dem historischen Stadtbereich von Venedig. Diese Stadt, die von unzähligen Kanälen durchzogen, auf Wasser gebaut und nur mit Fußgängerbrücken verbunden ist, hat es geschafft, bis heute total autofrei zu sein. Nun könnte man das als trivial abbuchen. Aber so trivial ist das nicht, es hat durchaus in den letzten vierzig Jahren verschiedene Ansätze gegeben, die Kanäle zuzuschütten und in Straßen zu verwandeln. Doch immer haben die Einwohner als Traditionalisten zwar heftig streitend, aber doch relativ geschlossen diesen Versuchungen widerstanden. Trotzdem ist auch über Venedig eine gewisse Motorisierung hereingebrochen, nämlich in Form der vielen kleinen Motorboote und der größeren Transportmotorschiffe, die innerhalb Venedigs als eine Art Busverkehr über die großen Kanäle den öffentlichen Nahverkehr bewältigen, ausgehend vom Hauptbahnhof oder vom großen Parkhaus.

Venedig – Erlebnis einer autofreien Stadt

Und da kommt man natürlich auch auf den Pferdefuß der historischen Lösung in Venedig, denn ursprünglich lag diese Stadt mitten in der Lagune, also im Wasser, und wurde dann durch den Eisenbahndamm und die große vierspurige Autobahn mit dem Festland verbunden. Am Ende der Autobahn lagen zunächst Parkplätze, die schon in den 60er Jahren nicht mehr ausreichten und durch ein riesengroßes, kilometerlanges Parkhaus ersetzt wurden. Zwar kommt damit in den historischen Stadtbereich das Auto nicht hinein, aber das Auto tangiert diese Stadt immerhin. Für jeden, der diese Stadt besucht, wird dies deutlich, ob er mit der Eisenbahn oder mit dem Auto über den Damm rollt. Das eine ist ein majestätisches Hineingleiten in die Stadt, und das andere ist eine hektische Veranstaltung, die darüber hinaus außerordentlich kostspielig ist. Mit der Eisenbahn ist es sehr billig, mit dem Auto ist der tägliche Obolus für den Parkplatz sehr aufwendig. Umgekehrt wird jedem deutlich, was eigentlich allein das stehende Auto an Kosten verursacht. In einer so verkehrsberuhigten oder ruhig gebliebenen Stadt wie Venedig wird jedem Besucher deutlich, wie angenehm es ist, einmal eine lange Zeit ohne Auto zu leben, entweder zu Fuß zu gehen oder mit dem Schiff zu fahren. Die Stadt selbst ist auch heute noch trotz aller Unkenrufe das blühende Leben, sie ist nicht untergegangen, weil sie auf die Autos verzichtet hat, sondern sie hat wahrscheinlich nur deshalb so lange überlebt. Ihre Schwierigkeiten rühren trotzdem von dem Auto her. Die Stadt selbst ist bedroht vom Meer, weil durch den Ausbau eines großen Hafens am Festland die Meeresströmungen sich so verändert haben, daß die Stadt langsam im Meer versinkt. Und jener große Hafen Mestre mit den Industriezonen I und II ist der Hauptumschlagplatz in Norditalien für Erdöl, also für den Treibstoff der Automobile. So geht selbst diese absolut verkehrsberuhigte Stadt am Auto zugrunde – welche Ironie des Schicksals. Vielleicht ist aber das historische Festhalten an Venedig der Ausgangspunkt für viele Lösungen, die jetzt in Italien zur Lösung der Verkehrsprobleme gesucht und immer häufiger gefunden werden.

Bologna – Musterbeispiel einer autoarmen Stadt

Unter vielen Verkehrsplanern gilt das Konzept der Verkehrsberuhigung in Bologna als eine beispielhafte Lösung. Der Innenstadtbereich in Bologna ist für Touristen und Pendler absolut gesperrt, Anwohner erhalten Anwohnerparkplatz-Berechtigungen und können sich nur noch im Schrittempo in der Stadt bewegen. Die Stadt mit ihrem mittelalterlichen Kern besticht vor allem durch ihre Loggien, die so hoch angelegt waren, daß ein Reiter unter ihnen reiten konnte. Die Motorisierung der 50er und 60er Jahre führte dazu, daß sich vor allem unter diesen Loggien die Abgase derart sammelten, daß es unerträglich war. Dies dürfte zu dem entscheidenden Schritt geführt haben, einen großen Teil der Automobile aus der Stadt zu verbannen. Dabei ging man davon aus, daß der Innenstadtbereich nur von Bussen, Taxen, Mietwagen mit Fahrern, Kleinlastern bis 4 Tonnen Tragfähigkeit, Hotelgästen und Fahrzeugen mit Sonderberechtigungen befahren werden durfte. Diese Sonderberechtigungen wurden an 40.000 Leute vergeben, 22.000 davon an die Bewohner und 20.000 an die Betreiber und Benutzer privater Garagen. Darüber hinaus wurde ein umfangreiches Busspurennetz eingerichtet, und es wurde einiges getan, um die Stadt für den Fahrradverkehr attraktiv zu machen. Dabei sollte man sich keine Illusionen machen: Im Innenstadtbereich von Bologna ist es nicht autofrei, sondern höchstens autoarm. Man kann sich als Fahrradfahrer wesentlich besser bewegen als in fast jeder anderen italienischen Stadt, aber man hat mit Sicherheit nicht die Attraktivität wie in Münster.

Muster mit Mängeln

In Bologna gibt es darüber hinaus aus meiner Sicht einige ganz gravierende Mängel in der Verkehrsplanung. Es fehlt vollständig der schienengebundene Nahverkehr, und es wurden viel zu viele Sondergenehmigungen ausgegeben. Auch dieses Beispiel ist deshalb keine Lösung, nur ein Schritt in eine richtige Richtung. Die jetzigen Erweiterungsplanungen gehen für meine Begriffe in eine noch falschere Richtung, weil in Bologna anstelle eines Straßenbahnnetzes ein U-Bahn-Netz geplant wird. Dieses U-Bahn-Netz läßt die historische Altstadt, die aber der Kern der Stadt ist, außer acht, weil es unmöglich ist, in diesem Teil der Stadt eine U-Bahn zu planen und zu bauen. Die Konsequenz wäre eigentlich eine andere: Anstatt teure U-Bahn-Netze aufzubauen, sollten billige Straßenbahnnetze aufgebaut und durchgesetzt werden. Das Kostenverhältnis zwischen U-Bahn und Straßenbahn ist bekanntlich zehn zu eins, und dieses Kostenverhältnis wird dazu führen, daß auch in Bologna, wo an sich eine progressive Verkehrsplanung in Gang gekommen war, diese steckenbleibt, weil sie viel zu spät ein attraktives öffentliches Nahverkehrssystem entwickelt. Darüber hinaus leidet für meine Begriffe die Verkehrsplanung von Bologna unter denselben Fehlern, die man überall antrifft: Es werden nur Konzepte für einen Innenstadtbereich gemacht. Das Hauptverkehrsaufkommen wird aber in der Regel von den Wohnstädten erzeugt.

Verkehr wächst wieder

Schon drei Jahre nach dem großartigen Beginn zeigen sich in Bologna die Schwächen einer nicht konsequenten Lösung: Durch die vielen Sondergenehmigungen ist der automobile Individualverkehr im verkehrsberuhigten Bereich schon wieder auf achtzig bis neunzig Prozent des Bestandes angestiegen, den er vor der geplanten Maßnahme hatte. Man kann also aus diesem Beispiel lernen, daß auch eine Verkehrsberuhigung, die den Anteil des Automobils reduziert, zur Ausweitung des automobilen Individualverkehrs führt. Mit einer so gearteten Lösung kann man höchstens die Zuwachsraten kappen, aber nichts Grundsätzliches verändern. Dabei ist zu bedenken, daß natürlich die Stadtregierung in Bologna auf einen breiten Konsens in der Bevölkerung angewiesen ist und daß jede dieser Maßnahmen auch abhängig ist davon, ob die Kontrollen, die unweigerlich nötig sind, schnell, entschieden und zügig von der Polizei durchgeführt werden. Zwar gibt es in Bologna punktuell Polizeikontrollen, aber aus meiner Sicht viel zuwenig.

Auch hier wird deutlich, ohne eine Ordnungsmacht, die in der Leitung und in der Durchführungsebene sich mit einem solchen Konzept identifiziert, wird man kaum etwas durchsetzen können. Ich will den Versuch, der in Bologna gemacht worden ist, nicht herabqualifizieren, sondern nur die Randbedingungen beschreiben, die aus meiner Sicht notwendig sind, um in dem fortgeschrittenen Stadium der Verkehrsnot, in der wir uns befinden, Lösungen zu finden. Und diese Lösungen müssen in erster Linie nicht so sehr von einem Einwirken auf den Kfz-Verkehr ausgehen, sondern von einem veränderten Angebot im öffentlichen Nahverkehr, im Fahrradverkehr und bei den Fußwegen. Wenn dieses Angebot geschaffen ist, dann ist es leicht möglich, gegen das Kraftfahrzeug vorzugehen. Und das ist in Bologna nicht geschehen, hier sind Zwischenlösungen in Form eines nicht attraktiven Busverkehrs geschaffen worden, und der Benutzer wird auf die Zukunft vertröstet.

Keine Hilfestellung für Benutzer

Am Beispiel Bologna selbst kann man für meine Begriffe noch etwas anderes, ganz Entscheidendes, aber für Verkehrsplaner scheinbar Unwesentliches beobachten: Der Tourist, der Einpendler oder der nicht ganz Ortskundige kommt nach Bologna und findet kaum Hinweise und Erklärungen, wie er sich in einer solchen Stadt zu verhalten hat. Es gibt also keine Leitsysteme, kaum grafisch gut gestaltete Schilder und viel zuwenig Hilfen, die einem Besucher und einem Benutzer, der sich in einem solchen System nicht auskennt, Hilfestellung anbieten. Dies halte ich aber für eine ganz entscheidende verkehrsplanerische Maßnahme, die wahrscheinlich mehr über den Erfolg aussagt als viele Straßenbaumaßnahmen, die sich dann erübrigen. Aus meiner Sicht überzeugt das Beispiel Bologna, obwohl es von vielen Verkehrsplanern hochgelobt wird, ganz und gar nicht. Das Ende einer solchen neuen Verkehrskonzeption müßte eine autofreie Stadt sein, die gänzlich durch den öffentlichen Personennahverkehr, den Fahrradverkehr und den Fußverkehr erschlossen werden könnte. Dies ist in Bologna weder beabsichtigt noch auf absehbare Zeit möglich.

Andere machen es besser

Ganz andere Beispiele findet man in Italien an solchen Stellen, die eigentlich kaum bekannt sind, die aber vielleicht viel spektakulärer sind. Das ist in Italien immer dann der Fall, wenn historische Stadtgrundrisse durch erhaltene Mauern oder Festungsanlagen gezwungen wurden, sich dem Automobil zu verschließen, wenn man nicht riskieren wollte, diese Stadtgrundrisse oder Festungsanlagen zu opfern. Hierzu zähle ich die Städte Vicenza, Ferrara und San Gimignano. Vor allem San Gimignano hat seinen Innenstadtbereich konsequent gegen die Autos – auch der Bewohner – abgeschirmt und nur zu ganz bestimmten Tageszeiten Lieferverkehr zugelassen. Aus meiner Sicht gibt es kaum eine Kleinstadt, die lebendiger, attraktiver und moderner ist als die Stadt San Gimignano, die konsequent den historischen Stadtgrundriß, die Stadtmauern und die Art der Bewirtschaftung der Stadt erhalten hat. Ungewollt ist hier eine Verkehrsplanung entstanden, die sich nicht an Opportunität orientiert, sondern an langfristigen historischen Gegebenheiten, die also eine Modetorheit wie das Automobil ruhig für hundert Jahre überstehen kann, ohne Schaden zu nehmen.

Vicenza, die Stadt Paladius', nimmt hier eine Mittelstellung ein. Auch diese Stadt war für eine längere Zeit teilweise dem Automobil, zumindest im Kernbereich, fast geopfert worden. Inzwischen hat man aus dem gesamten Stadtkern fast alle Autos, auch Anwohnerautos, verbannt. Diese Lösung unterscheidet sich angenehm von Bologna, weil man hier im Unterschied zu Bologna erleben kann, daß eine Stadt auch ohne jedes Auto lebendig, attraktiv und geschäftig ist.

Alle erwähnten Beispiele leiden zunächst einmal unter der Unvergleichbarkeit der Größenordnungen zu den Städten, in denen wirklich Verkehrsprobleme bestehen, also in Berlin, im Rhein-Main-Gebiet und im Rhein-Ruhr-Gebiet. Lernen könnte man wahrscheinlich von Venedig, denn dort war es einfach, man brauchte nur die Wasserstraßen beizubehalten, und Gott sei Dank ist niemand auf die Idee gekommen, Schwimmautos in Serie zu produzieren. Für einen Verkehrsplaner gäbe es also vielleicht nur die Möglichkeit, die Probleme, die wirklich bestehen, klarzumachen, wenn er aus den Straßen Kanäle machte oder aber wenn es ihm gelingen würde klarzumachen, daß unsere Straßen mit Luft gefüllt sind, also einem Medium, das mindestens so kostbar ist wie Wasser. Trotzdem dürften die Beispiele aus Italien für eine zukünftige Verkehrsgestaltung in einem der Urautoländer dieser Erde, nämlich in der Bundesrepublik, wegweisend sein.

Diplomingenieur Hans-Joachim Rieseberg beschäftigt sich mit Architektur, Stadt- und Verkehrsplanung und ist Autor mehrerer Bücher über unsere zerstörerische Lebensweise; kürzlich erschien „Arbeit bis zum Untergang“ im Raben- Verlag.

Die nächste Folge erscheint am Montag kommender Woche.

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