: Bleistifte zu Dolchen machen
■ „My Time With the Red Guards“ im Forum
Diese Art von Kunstgriff ist typisch für das Berlinale-Forum: Parallel zu einer großen kulturhistorischen Berliner Ausstellung gelingt es, eine Reihe von Filmen relativ unbekannter Provenienz einem internationalen Publikum zugänglich zu machen.
Wie im letzten Jahr die jiddischen Filme zur Ausstellung „Jüdische Lebenswelten“, ergänzen die chinesischen Filme die „China Avantgarde“-Kunstaustellung im Haus der Kulturen der Welt: Genres, Gegenwärtiges, Positionen aus Kultur und Politik, Lebensformen. „My Time with the Red Guards“ macht auch Leuten, die keinen Durchmarsch durch maoistische Klüngelgrüppchen hinter sich haben, deutlich, worin die „Kultur“ im Begriff „Kulturrevolution“ bestand.
Der Regisseur Wu Wenguang hat vier Menschen um die vierzig interviewt, die als Teenager zu den Roten Garden gehörten, mit denen Mao Tse Tung in den späten sechziger Jahren den Parteiapparat aushebelte. Hauptstoßrichtung war der Kampf gegen bürgerliche Dekadenz und amerikanischen Imperialismus. Eine Gesprächspartnerin erzählt, wie sie und ein paar Altersgenossinnen damals („Wir galten als ziemlich rauhe Bande“) auf Lehrer losgingen. Einer wollte ihnen keine Druckerpresse für die Flugblätter zur Verfügung stellen. Da wurden ihm die Haare halb abgeschoren, und die Rotgardisten fragten lächelnd, wie er sich fühle. „Es ist gut für mich“, habe der Erschrockene geantwortet. „Es zeigt mir, daß ich ein Schuft bin.“
Kriechen mußten sie, Abitte leisten, einer wurde in seiner Wohnung von seinen Schülern totgeschlagen. In die Roten Garden aufgenommen zu werden, war ein Privileg, das nur dem gewährt wurde, der einen revolutionären Familienhintergrund nachweisen konnte. „Mein Vater war schon beim langen Marsch dabeigewesen“, berichtet einer, der heute Filmemacher ist. Als Kleidung kam nur das Graugrün der Arbeiter-und Bauerntracht in Frage; helle Farben galten als Bourgois, dunkle als pervers-dekadent.
Einer kramt ein Zeugnis vor: „Wu Chaong war stets ehrlich, einfach angezogen, im guten Kontakt mit seinen Mitschülern.“ Zwischen solche Erzählungen schneidet Wenguang Gespräche mit der Mädchenband Cobra, die kürzlich auch in Berlin zu sehen war. „Mir erscheinen die Roten Garden lächerlich“, sagt sie.
Die Akteure von damals können ein solches Sentiment natürlich nicht teilen. Für sie sei damals alles offen gewesen, erzählt die Ärztin Shao Li. „Ich hätte Traktoristin, Arbeiterin oder Erfinderin von Maschinen werden können. Ich war überglücklich, dazuzugehören.“
Ganz in diesem Sinne läßt Wenguang eine Spieluhr in Großaufnahme ticken, deren große Zeiger von einem Miniatur-Rotarmisten weitergedreht werden: Geschichte machen, aber auch das Rädchen im Getriebe sein, im roten Fahnenmeer aufgehen.
Alle haben sie damals, 1967, auf Mao gewartet, am Tiananmen- Platz. Sie hätten so laut gebrüllt, damit er sie ja auch hören konnte, geweint hätten sie, und einer, heute ein Philologe, hat sogar seine Hand geschüttelt und kann es nicht vergessen.
Je näher der Film an die Gegenwart reicht, desto rarer werden die Fragen, desto dünner die Antworten. Ein lähmendes Schweigen ist zu spüren. Leider versucht der Regisseur, den Mangel an Stoff mit einem Mehr an Zeit wettzumachen, aber 165 Minuten sind für das bißchen, das sich seine Gesprächspartner zu sagen wagen, einfach zu viel. Mariam Niroumand
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