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Wandert der Finger nach links

...geht es in die Vergangenheit. „Sonata“ — Seine Installation für interaktives Kino zeigt Grahame Weinbren im Forum  ■  Von Sabine Jaspers

Wäre das Fernsehprogramm lohnenswert, der New Yorker Videoinstallateur Grahame Weinbren wäre Hopper und Zapper geworden. Doch in welchen Kanal ein Couchpotato mit Hilfe seiner Fernbedienung auch flüchten mag: „More Of The Same“ heißt das Ergebnis, denn in anderen Programmen gibt's auch nicht viel mehr als Werbung und Soap Operas. Im Kino sieht es auch nicht besser aus. Eigeninitiative des Publikums, die über Popcorn-Kauen oder Cola-Schlürfen hinausgeht, ist unerwünscht. Die Kinokartenbesitzer sind zur Passivität verurteilt, wenn sie vom Regisseur bei der Hand genommen und bis zum Ende seiner Geschichte geführt werden. Um dieser Zuschauerrolle ein Ende zu bereiten, hat sich der Experimentalfilmer Weinbren etwas einfallen lassen: Bei der Uraufführung seiner Installation „Sonata – Interaktives Kino“ können Berlinale-Besucher im Foyer der Akademie der Künste mitmachen.

„Interaktives Kino“, die Beteiligung des Publikums am Gang des Filmgeschehens, das halten manche für eine Revolution, die der Erfindung des Tonfilms nahekommt. Kaum zu glauben, wenn man Weinbrens „revolutionärer Zelle“ in der Akadmie ansichtig wird: Ein Monitor vergegenwärtigt einem den letzten Besuch am EC- Automaten, ein Drahtnetz schirmt die Testperson ab. An einer Wand sind weitere Bildschirme angebracht, damit auch andere den Film sehen können, den sich der Kino-Aktivist gerade zusammenstellt. Die Installation in der Gestaltung von Laura Kurgan wirkt schlicht und einladend.

Wenn man es sich auf dem Plastiksitz bequem gemacht hat und sich mit dem Finger dem Bildschirm nähert, ohne ihn zu berühren („Point Screen“), ändert sich das Filmgeschehen. Tolstois Erzählung „Die Kreutzersonate“ ist Angelpunkt der Handlung. Darin ermordet ein eifersüchtiger Mann seine Ehefrau in einer Violinstunde. Nähert sich der Zuschauer einem anderen Punkt des Bildschirms, wird er mit der Perspektive einer Mörderin konfrontiert: Hier wird von der alttestamentarischen Judith berichtet, die Holofernes enthauptet. Wandert der Finger nach links, geht es in die Vergangenheit, nach rechts in die Zukunft, der untere Bereich ist für filmische Fußnoten und Kommentare des Autors reserviert. Legt man die Hände in den Schoß und macht gar nichts, trifft man einen Zugreisenden, den Erzähler. Der ist ein begnadigter Mörder, der die Tragödie seiner Ehe schildert. In einer weiteren Parallelhandlung läßt sich ein Freudsches Motiv entdecken...

Die „Sonata“ fasziniert, nicht nur weil der Spieltrieb geweckt wird: Hier macht das Springen in der Handlung Sinn, da sich die Erzählebenen nach dem Baukastenprinzip zu einem komplexen Bild zusammensetzen und dabei die Wahrheit einer Wahrnehmung immer wieder in Frage gestellt werden muß. Wieviele Ebenen sich erschließen, hängt von Lust und Laune des Betrachters ab. Eine halbe Stunde dauert es etwa, bis man mit der „Sonata“ vertraut ist, so Weinbren. Doch „Tonnen von Material“, so der Künstler, machen eine einzigartige, nahezu unendliche Geschichte möglich. Ergeben sich doch durch die Montage des Zuschauers unzählige Kombinationen. Ist das nun eine Revolution, die Entdeckung der Zuschauerdemokratie im Kinosaal? Oder funktioniert das „interaktive Kino“ mehr nach dem Motto „Wählen gehen: ja, Volksentscheid: nein“?

Auch wenn Weinbren den Programmwechsel auf dem Monitor in seiner eigenen Demonstration mit einer Geste auslöst, deren Optik einen an die gemalte Szene an der Decke der Sixtinischen Kapelle erinnert, in der der Schöpfer Adam mit einem Fingerzeig Geist und Seele einhaucht: Interaktives Kino ist für ihn weniger Revolution als eine logische Fortsetzung der technischen Entwicklung unserer Zeit.

„Wir sind im Computer-Zeitalter daran gewöhnt, mit Maschinen zu kommunizieren. Das wird auch im Kino möglich sein, ohne daß dabei der konventionelle Film von der Leinwand verdrängt wird. Nach der Erfindung des Kinos blieb ja auch die Photographie.“, sagt der Künstler. Seine Intention formuliert er bescheiden: In erster Linie kommt es ihm darauf an, möglichst viele Facetten zu vermitteln, den linearen Verlauf einer Handlung zu brechen, den Zuschauer die Geschichte selbst beenden zu lassen. Doch trotz der Emanzipation des „Sonata“-Publikums bleibt der Künstler der Architekt, der die Stadt geschaffen hat, in der ein Besucher spazieren gehen darf, sagt er.

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