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Falls Sachsens Metallarbeitgeber die Tarifverträge, die den Arbeitnehmern im Osten eine stufenweise Anpassung der Löhne an das westdeutsche Niveau bis 1994 zusicherten, nicht einhalten, bereitet sich die IG Metall auf einen Arbeitskampf vor.

Im Dilemma zwischen Lohnverzicht und Pleite

In der Werkhalle des Werkzeugmaschinenherstellers Sket in der sachsen-anhaltinischen Landeshauptstadt Magdeburg ist die Hölle los. „Das ist doch Wahnsinn“, schimpft ein Arbeiter im Blaumann, „Ost- Löhne bei West-Preisen, das reicht doch kaum zum Leben.“ Und ein Kollege stimmt ihm zu: „Wir arbeiten mindestens genausoviel wie die im Westen – aber ohne Produktivität und mit viel weniger Lohn.“ Nur ein Drittel der West-Gehälter, 40-Stunden-Woche, kaum Zuschläge oder Zulagen und sechs Tage weniger Urlaub. Wird der Osten zur Billiglohnzone im eigenen Land?

Was die Gemüter der Maschinenbauer so erregt, ist die störrische Haltung der Arbeitgeber, die ihnen die stufenweise Anpassung der Tariflöhne an das westdeutsche Niveau bis 1994 aufkündigen wollen. Zum 1.April 1993, so hatten es die Tarifpartner im März 1991 ausgehandelt, sollen die Löhne für die noch rund 300.000 Beschäftigten der ostdeutschen Metallindustrie von derzeit 71 auf 82Prozent der westdeutschen Einkommen angehoben werden – rechnet man die Lohnerhöhungen im Westen ein, bedeutet das einen Anstieg um 26Prozent. Viel zuviel, sagen die Arbeitgeber, angesichts der existenzbedrohenden Lage der ostdeutschen Metallunternehmen sei höchstenfalls ein Ausgleich der Inflationsrate drin – das sind in den neuen Bundesländern gerade neun Prozent.

Selbst wenn heute in Sachsen die derzeit laufenden Schlichtungsverhandlungen endgültig scheitern, will der Verband der Metall- und Elektroindustrie hart bleiben. Da aber für eine Revision der Tarifverträge der Schiedsspruch einer Mehrheit der Stimmberechtigten „zuzüglich einer weiteren Stimme“ bedarf, also nur möglich ist, wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften einwilligen, scheint ein Scheitern programmiert. Die IG Metall bereitet sich schon auf einen Arbeitskampf vor, falls die Arbeitgeber die Tarifverträge nach einer ergebnislosen Schlichtung nicht einhalten werden. „Wer den Kampf mit uns will“, so IG-Metall-Vize Klaus Zwickel, „wird ihn bekommen, Unternehmen für Unternehmen, Betrieb für Betrieb, Werkstatt für Werkstatt.“

Arbeitsproduktivität hinkt der Lohnentwicklung hinterher

Wie verzwickt die Lage tatsächlich ist, zeigen die hinreichend bekannten Argumente beider Seiten. Die Lohnentwicklung müsse der veränderten wirtschaftlichen Situation in Ostdeutschland angepaßt werden, verkündete Hans-Joachim Gottschol, Präsident des Arbeitgeberverbandes. Seit Monaten prangern Unternehmensvertreter, Politiker und Wissenschaftler die ausgehandelten Tarifverträge als größtes Hemmnis für den ostdeutschen Aufschwung an und verweisen dabei auf die gestiegenen Lohnstückkosten. Nach Berechnungen der Wirtschaftsforscher sind diese in Ostdeutschland derzeit mehr als doppelt so hoch wie im Westen, die Produktivität erreicht nur ein Drittel der West-Betriebe. Die Arbeitsproduktivität hängt also der Lohnentwicklung meilenweit hinterher; die meisten Betriebe sind derzeit nicht in der Lage, den Lohnkostendruck durch eine Erneuerung des Produktionsapparats und die Umstellung der Produktpalette aufzufangen.

Summa summarum kostet die Lohnerhöhung die Ost-Unternehmen in diesem Jahr vier Milliarden Mark. Bei dem derzeitigen Tempo der Lohnanpassung, so die Quintessenz der Arbeitgeber-Argumentation, werde es schwer werden, die große Kluft bei den Produktionskosten, die gegenüber der westdeutschen Industrie und der internationalen Konkurrenz bestehe, ohne weiteren Personalabbau zu schließen. Hinzu kommt, daß knapp die Hälfte der Metall- Beschäftigten in Treuhand-Betrieben arbeitet, die allesamt riesige Verluste einfahren. Die Treuhand, obwohl eigentlich zur Neutralität verpflichtet, unterstützt daher die Arbeitgeber im Revisionsstreit. Der Lohnkostenschub müsse erst einmal finanziert werden, und letztendlich komme der Steuerzahler dafür auf, heißt es dort; dieses Geld fehle dann für die Sanierung der Betriebe.

Für die Gewerkschafter sind es aber nicht die Löhne, die die Betriebe in den Ruin treiben. IG-Metall-Boß Franz Steinkühler erklärte nicht ganz zu unrecht, es gebe keinen Beleg dafür, über die Löhne als Kostenfaktor auf die Lohnpolitik als Krisenursache zu schließen. Das Problem der darniederliegenden Ost-Industrie sind seiner Ansicht nach die marktfähigen Produkte, die sie entweder nicht haben oder für die sie keine Abnehmer finden. Lohnverzicht aber schaffe keine neuen Produkte, argumentieren die Metaller, damit ließen sich nicht einmal wie früher Maschinen in die GUS-Staaten verkaufen.

Selbst die immer wieder von beiden Seiten zitierten Wissenschaftler müssen eingestehen, daß die einfache Formel „Lohnhöhe gleich Produktivitätsnivau“ sich nicht ohne weiteres anwenden läßt, da die Verhältnisse im Osten alles andere als der Normalität entsprechen. Mit der trotz Warnungen von allen Seiten im Sommer 1990 politisch besiegelten Wirtschafts- und Währungsunion wurden der Ost-Industrie Rahmenbedingungen verpaßt, die keine Volkswirtschaft der Welt verkraftet hätte. Das Kostenniveau in Ostdeutschland schnellte durch die Aufwertung von einem Tag auf den anderen um rund 300 Prozent in die Höhe. Die Absatzmärkte in Osteuropa brachen zusammen, westdeutsche Firmen okkupierten die Märkte in Ostdeutschland. Doch die Situation ist mehr als grotesk: Nachdem der Aufschwung Ost ausgeblieben und die vom Kanzler an den Himmel gemalten „blühenden Industrielandschaften“ sich als Fata Morgana entpuppten, haben Bundesregierung, Bundesbank und Koalitionsparteien einen neuen Sündenbock für die ökonomische Malaise im Osten gefunden: die Tarifabschlüsse.

Der neue Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt drohte sogar, ganz im Stile seines Amtsvorgängers Möllemann, die Gewerkschaften notfalls mit Eingriffen in die Tarifautonomie auszuhebeln – über gesetzlich festgeschriebene Öffnungsklauseln. Schließlich haben die Bonner Regierungsspitzen eine Selbstbeschränkung der Gewerkschaften auch im Osten für ihren Solidarpakt bereits fest einkalkuliert.

Lohnabstriche – aus Angst vor Entlassungen

Das wollen sich die Metaller aber keinesfalls bieten lassen. Franz Steinkühler hat mehrfach klargemacht, daß sich die IG Metall nicht den schwarzen Peter einer verkorksten Vereinigungspolitik zuschieben lassen wird. Aber er und seine Truppe stecken im Dilemma: Kommt es zu der Lohnangleichung, haben sie zwar Wort gehalten, setzen dafür aber weitere Arbeitsplätze aufs Spiel. Bleibt sie aus, werden nicht nur die qualifizierten Arbeitskräfte weiter gen Westen abwandern, sondern auch nicht wenige Metaller der Gewerkschaft den Rücken kehren. Dabei hat die Organisation schon jetzt Probleme genug: Aus Angst vor immer neuen Entlassungswellen sind immer mehr ostdeutsche Betriebsräte bereit, den Unternehmen entgegenzukommen und Lohnabstriche in Kauf zu nehmen.

Doch auch die Arbeitgeber haben durch die Zwickmühle Lohnpolitik mit Schwierigkeiten in den eigenen Reihen zu kämpfen. Vielen Unternehmern gerade aus dem Westen will es gar nicht schmecken, daß ihnen die mit Dumping- Löhnen arbeitenden Ost-Firmen das Geschäft vermasseln. Schon bei dem billigen EKO-Stahl aus dem Eisenhüttenstädter Treuhandbetrieb ist für die westdeutschen Stahlbarone die Schmerzgrenze erreicht. Auch von den Bonner Deregulierungsplänen des Tarifrechts halten die meisten Arbeitgeber nichts: Man habe, so steht es im Jahresbericht der Deutschen Arbeitgeberverbände von 1991, „grundlegende Bedenken“ gegen eine Tariföffnung durch Betriebsvereinbarungen – selbst in Notfällen. Erwin Single

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