: Eine Amerikanerin in Berlin
Akim Egoyan wird immer sexier. Seine Filme provozierten schon immer und konzentrierten sich auf die Frage: Was weißt du und woher weißt du es? Stammt deine Information aus erster Hand oder vom Hörensagen, aus einem versteckten Heimvideo oder aus dem Fernsehen? In seinen letzten beiden Filmen, besonders in dem neuen, „Kalender“, wird diese epistemologische Leidenschaft verbrämt mit sexueller Begierde. Außerdem ist „Kalender“ auch noch komisch.
Ein kanadischer Fotograf und seine Frau, beide armenischer Herkunft, reisen nach Armenien, um die Kirchen des Landes für einen Fotokalender zu fotografieren. Die Frau (Arsinee Khaniian) fungiert als Sprecherin und Dolmetscherin ihres Mannes (von Egoyan gespielt), da er nicht nur ein bißchen snobistisch ist, sondern auch wenig Interesse für Heimat und Sprache seiner Familie aufbringt. Auf der Reise durch Armeniens Berge und Geschichte entdeckt die Frau, daß sie mehr gemein hat mit dem Führer/Fahrer (Ashot Adamian) — er spielt Gitarre und kennt die Geschichte jedes Steins — als mit ihrem professionell gestimmten, pedantischen Ehemann (das hat vielleicht auch ein bißchen mit Adamians prächtigem Adlerprofil und seinen kräftigen Muskeln zu tun). Als der Ehemann nach Kanada zurückkehrt und sich auf einige Affairen einläßt, bleibt seine Frau zurück.
Die Rundreise durch Armenien wird vollständig durch die Linse des Fotografen gefilmt. Man sieht ihn nur als Schatten auf Ruinenmauern, oder man sieht seine Hände vor seiner Ausrüstung. Durch die Kamera erleben wir mit, wie er seine Frau verliert. Nach einer Weile erkennt man aber auch, daß der Blick auf seine Frau nicht aus erster Hand stammt; es ist vielmehr ein Video, das er daheim anschaut, während er sich klarzuwerden sucht, was da eigentlich geschah, und auf dem Anrufbeantworter die vielen Botschaften seiner Frau abhört. Die Film- und Video-Passagen von Armenien vermischen sich ebenso wie die Tonspuren des Videos und des Anrufbeantworters. Sie verbinden sich zu der Frage: Wessen Geschichte wird hier erzählt? Ist es die des Mannes, den man in Armenien hören, aber nicht sehen kann, oder die der Frau, die man zuhause hört, aber nicht sehen kann?
Egoyan verleiht dem Film eine letzte und komische Wendung, indem er auf dem Anrufbeantworter Botschaften seines Besetzungsagenten zwischen die der Frau mischt. Der Agent läßt die Frauen aufmarschieren, die die Freundinnen des Mannes spielen sollen. Jede von ihnen telefoniert, zum Dessert eines Essens mit dem Ehemann, mit einem Liebhaber, bei dem sie lieber wäre — wie sie jedenfalls beteuert. Das Publikum hört nur ihre Seite des Gesprächs, nur die eine Seite der Geschichte. Mindestens eine Frau spricht offensichtlich mit einer Tonbandstimme, die ihr mitteilt: „Kein Anschluß unter dieser Nummer.“
In der Schlußszene lädt der Ehemann eine Frau zum Essen ein, deren äyptische Herkunft er, wie er behauptet, aus ihrem Gang zu erkennen vermag. In diesem plumpsten der ethnischen Stereotypen des Films vereinen sich die Fragen aus „Kalender“: Wie kennt man einen anderen — seine Motive, Loyalitäten, wo er sich zuhause fühlt — und woher weiß man diese Dinge über sich selbst? Bedient man sich der eigenen Erfahrung oder verläßt man sich, mehr oder weniger unbewußt, auf die Filter anderer? Warum gibt es keinen Hinweis auf die Identität, die Geschichte oder Empfindungen des Ehemannes — oder auf die der Frauen in seinem Leben?
Derek Jarman wird immer trauriger. In „Wittgenstein“ ist er viel ruhiger als in früheren Filmen wie „The Last of England“, „War Requiem“ und „The Garden“, wo sein Zorn auf Dummheit und Intoleranz jeden Rahmen sprengte. Aber mehr noch ermüdet ihn der Kampf gegen jene Brutalität der Gedankenlosigkeit, mit der Großbritannien (wie so viele andere Länder) seine Minderheiten bedenkt, zumal — für Jarman von besonderem Interesse — die Homosexuellen und die Menschen mit AIDS. Diese Brutalität zerstört das Leben, aber vor dem Leben die Seele: die Beschäftigung mit dem, was menschlich sein könnte — Phantasie, Wünschen und Sprache. Das waren die Dinge, die dem Philosophen Ludwig Wittgenstein wichtig waren; sein Leben skizziert Jarman hier impressionistisch und humorvoll. Es ist klar, daß Jarman den Film machte, weil diese Dinge auch ihm wichtig sind. „In mir ist viel von Ludwig“, sagt Jarman, „nicht in meinem Werk, sondern in meinem Leben“. Mit diesem Film ist „Wittgenstein“ auch in seinem Werk.
Wie Jarmans letzter Film „Edward II.“ ist „Wittgenstein“ extravagant angelegt und spielt vor einem leeren Hintergrund — ein Kontrast, der die Verzweiflung des Filmemachers angesichts des Überlebenskampfes von Talent und Vision im primitiven Milieu englischer Vorurteile zum Ausdruck bringen soll. In „Wittgenstein“ setzt Jarman noch einen drauf und läßt den Film in der Leere spielen. Die Schauspieler und wohlsortierten Requisiten stehen im Nirgendwo, im Dunkeln. Jarmans Sicht auf England wird immer schwärzer. Der häufigste Refrain in „Wittgenstein“ ist die Klage des Philosophen: „Verstehen Sie, was ich sage?“ Jarman, selbst an AIDS erkrankt, sagt uns, daß wir nichts davon verstehen. Marcia Pally
Aus dem Amerikanischen von Meino Büning
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