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Ganz ohne Drehbuch

■ Adriano Apràs Dokumentar-Hommage „Rossellini Visto Da Rossellini“

„Meine Gefühle spielen hier überhaupt keine Rolle“ — der das so lakonisch feststellt, ist der Regisseur Roberto Rossellini, 1906 in Rom geboren, gestorben 1977. Adriano Apràs Hommage „Rossellini visto da Rossellini“ gilt einer langen Karriere und durchbricht die üblichen Standards der Dokumentation. Apràs Portrait ist spannungsreich aus Filmausschnitten, Gesprächsequenzen und privaten Filmdokumenten montiert und wird der Bandbreite wie der Wechselhaftigkeit von Rossellinis Werks gerecht. Die Verknüpfung von Schlüsselszenen, Filmanfängen (auch nichtitalienischer Fassungen), Standfotos, Aufnahmen während der Dreharbeiten und Kommentaren gewährt Einblicke in die Werkstatt des Regisseurs.

Unprätentiös kommentiert er die Entstehung seiner Filme (23 Spiel- und neun Fernsehenfilme), umreißt seine — bisweilen widersprüchlichen — künstlerischen Standpunkte. Ähnlich unsystematisch ist die Chronologie von Apràs Dokumentarfilm, immer wieder durchbrochen durch den Wechsel von schwarzweißen und farbigen Bildern. Rückblenden und Voraus-Projektionen deuten filmische Spontaneität an: Rossellini verabscheut „Schreibtisch-Drehbücher“. Filme entstehen vor Ort, in den Straßen und unter freiem Himmel — ohne fertiges Drehbuch und oft inmitten zertrümmerter Städte und Landschaften. Sie kosten wenig — die Zeit der bombastischen Studioproduktionen hatte sich nach 1945 überlebt.

Im Mittelpunkt von Rossellinis erster Schaffensperiode stehen Individuen, die überleben wollen im kollektiven Elend — und scheitern. Rossellini konstatiert das mit seiner Kamera ähnlich lakonisch wie er spricht. Aber auch die Schauspieler verkörpern einen neuen Typus. Anna Magnanis enorme schauspielerische Präsenz hat großen Anteil daran, daß „Roma, Citta Aperta“ (1945) und „L'Amore“ (1948) in die Filmgeschichte eingegangen sind.

Auch Aprà kommt ohne Drehbuch aus. Er verwendet Archiv- Materialien, Interview und private Dokumente wie etwa die 16mm- Farbaufnahmen von Arbeiten zu „Stromboli“ mit Ingrid Bergman. Sie, die mit der „ungeplanten“ Arbeitsweise ihres Ehemannes große Probleme hatte, kommentiert den Amateurfilm auch. Apràs Filmzitate veranschaulichen die häufigen Stilwechsel (von „Paisa“ zu „Viaggio Italia“, von „Viva l'Italia“ zu „Atti degli Apostoli“), Rossellinis Stimme begleitet eloquent seine intellektuellen Wandlungen im Denken: vom Rationalismus zum Irrationalismus, von der Religiosität zum Atheismus.

Menschliches Scheitern an der eigenen Unzulänglichkeit, an Idealen und ihrer Unwirklichkeit sind das große Thema der Filme mit Ingrid Bergmann: „Europa '51“ (1952), „Siamo Donne“ (1953). Nach dem Bruch der Beziehung wendet sich Rossellini stärker dem Dokumentarfilm zu. „India“ (1958), „Idea di un Isola“ (1967) entstehen. Er inszeniert historische Stoffe für das Fernsehen — „Atti degli Apostoli“ (1968) und „Socrate“ (1970) — in denen er versucht, Geschichte ohne Effekte aus der nüchternen Rekonstruktion wirken zu lassen. Für seine Hinwendung zu historisch-christlichen Themen erntet Rossellini heftige Kritik.

Apràs gelungene Montage „Rossellini visto da Rossellini“ (nur Tochter Isabella als Reporterin irritiert, wenn sie starr, mit Mikro vor dem Mund, den großen Regisseur aus familiärer Sicht beschreibt) macht Lust darauf, die Filme eines Regisseurs wiederzusehen, der bekennt, vor dem Filmemachen einen besseren Job gehabt zu haben: Sohn sein. Erst als er das Familienvermögen, das er nach dem Tod seines Vaters (1931) geerbt hatte, aufgebraucht hatte, mußte er lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Yvonne Rehhahn

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