: Boris, erlöse uns!
Mit religiöser Inbrunst huldigen Zuschauer und Veranstalter der Stuttgart Open einem rotblonden Tennisspieler ■ Aus dem euphorisierten Schwabenlande Peter Unfried
Höflich der Beifall, als ein souveräner Sieger namens Michael Stich einmal kurz ins Publikum grüßt und die Halle verläßt, enthusiastisch der Jubel, als Minuten später vier Jungs zu einem relativ bedeutungslosen Doppel die Schleyerhalle betreten. Aber was heißt bedeutungslos? Einer der vier ist rotblond. Muß man mehr sagen? Von nun an rufen gequälte Stimmen aus allen Ecken der Halle regelmäßig zwischen den Ballwechseln jenes zweisilbige Wort, das den Rotblonden bezeichnet, und doch auch noch so viel mehr. Mal hell und juvenil, mal sonor und senil. Diese fünf Buchstaben müssen eine geheimnisvolle Botschaft in sich tragen! Die Menschen rufen „Boris“, und es klingt wie „Erlöse uns“. Und als der Gerufene aufblickt, nach dorthin, woher der letzte Schrei kam, und mit einer erhobenen Cäsarenhand zu erkennen gibt, daß er erhört hat, da verwandelt sich freudige Erleichterung in ein tausendfaches Aufglucksen: Alles ist gut. ER ist da.
Er, der das Unmögliche möglich machen kann: Im tiefen Osten eine Nobelkarossen-Vertretung einrichten, in der rassistischen Republik eine schwarze Frau aus- und heimführen, über sich und die Welt den tiefschürfendsten Blödsinn verbreiten, aus gekränkter Eitelkeit via TV einen konkurrierenden Spieler auf allerunterstem Niveau herunterputzen.
Und eben auch aus einem Nichtereignis wie dem neuerdings „Open“ statt „Classics“ geheißenen Stuttgarter Geschäft des Ion Tiriac einen Superseller machen. Kein Courier, kein Edberg, kein Sampras, kein Ivanisevic? Wen juckt's, außer einer Handvoll Leute, die sich für Tennis, den Sport, interessieren? Alles läuft auch ohne den schwedischen Superlangweiler und die kaugummikauenden Ami-Lümmel prima. Für Ion Tiriac.
Und noch besser, seit man zwischen den deutschen Protagonisten des Busineß Gräben ausgemacht hat. Was den dunklen Herren aus Transsylvanien übrigens sehr betrübt. „Beide sind Menschen“, weiß er nämlich. Doch nicht schlicht, sondern mehr noch „gute Menschen“. Also ist da Hoffnung: „Wenn die wollen ein Bier trinken“, dann „werden die auch machen.“ Und weil er beide so gut leiden mag, wünscht er sich ganz heftig, daß „hoffentlich die werden Sonntag hier spielen“. Im Finale.
Dann hat nämlich alles perfekt geklappt. Der Veranstalter (die Stuttgarter Messe- und Kongreßgesellschaft) verdient jede Menge Kohle, die Sponsoren haben ihre Einschaltquoten, das öffentlich- rechtliche Fernsehen, kurzfristig indigniert ob der Tiriacschen Tüchtigkeit, die Brosamen-Bilder auch noch kurzfristig und meistbietend (an das DSF) loszuwerden, ist besänftigt; die Zuschauer (alles ausverkauft) wissen, wozu sie sich die teuren Karten gekauft haben. Und die Tiriac-Bank, Bucuresti? Kann auch mit einer größeren Einzahlung rechnen.
Also wirklich: Alles ist gut.
Solange Boris durchhält. Und dafür hat man nicht alles, aber alles Menschenmögliche getan. Boris spielt dann, wenn er spielen will. In Doppelrunde 1 testet er den Centre Court, danach übt er zur „prime time“ vor voller Halle mit Kumpel Kühnen den einen oder anderen Schlag. Und die Zuschauer, die sonst wegen jedes Furzes davonrennen, bleiben sitzen und schauen völlig entrückt dem exerzierenden Hinundher zu. Seht diesen Menschen!
Dieses Wesen (25), das rational mittlerweile nicht mehr zu erfassen ist. Wenn jener was zum Ion sagt, sagt Ion, „muß man das respektiert sein“. So ist das: Wenn Becker, so heißt das in Fachkreisen, sich entscheidet, ein Turnier zu gewinnen, dann – na? – richtig, gewinnt er es auch. Und „dies“, sagt er in bezug auf Stuttgart, „ist ein großes Turnier. Da gibt's viele Punkte und viel Geld zu gewinnen“. Also?
Außerdem: „Ion macht das Turnier.“ Dessen erste Frage hatte zum Wochenanfang des Rotblonden Gesundheit gegolten, der kräftige Händedruck hat ihn dann völlig beruhigt. „Seit drei Wochen bin ich wieder ganz gut in shape“, hat Boris außerdem gesagt, und das zunächst gegen den Franzosen Henri Leconte mit 6:4, 6:7, 6:3 und, so er wollte, gestern im Achtelfinale (nach Redaktionsschluß beendet) auch gegen den dänischen Qualifikanten Kenneth Carlsen bewiesen.
Steigt er aus, so tuscheln es sich selbst die Balljungen zu, ist das Turnier tot. Geht er aber den Weg zu Ende, wird es denen, die dabeisein dürfen, wieder einmal wie ein gemeinsamer Marsch ins Paradies vorkommen.
In der Loge ergriffen sie einen von Becker ins Aus geschlagenen Ball, bestaunten ihn ehrfürchtig wie eine Reliquie und packten ihn dann sorgsam weg. Zu Hause werden sie ihm einen Altar errichten.
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