Der Frust treibt auf die Straße

„Nacht der tausend Feuer“ im Ruhrgebiet: Zehntausende Stahl- und Bergarbeiter gehen gegen den drohenden Arbeitsplatzabbau und Betriebsschließungen auf die Straße  ■ Aus Dortmund Walter Jakobs

Günna, Dortmunds berühmte Fernsehfußballpuppe, war ganz aus dem Häuschen. „Ich freue mich, daß in Dortmund auch mal so viele Leute aufe Straße sind, wenn Borussia nicht spielt.“ Günna kennt die Dortmunder, denn dahinter verbirgt sich der ehemalige Stadionsprecher und Kabarettist Bruno Knust. Günna sitzt auf der Ladefläche eines zur Bühne mutierten Lkw mitten auf der wichtigsten Kreuzung der Dortmunder B1. Rund 30.000 Menschen haben die zentrale Ost- West-Verbindung des Reviers in Besitz genommen. Angestrahlt von dem gleißend hellen Licht der Fernsehscheinwerfer gibt sich Hoesch Betriebsrat Bernd Schimmeyer zuversichtlich, daß „diese Kreuzung zu einem Symbol wird wie die Rheinhausener Brücke der Solidarität“. Auch die ist an diesem Mittwoch abend von etwa 7.000 Menschen blockiert, doch das Medieninteresse richtet sich auf Dortmund. Hier werden derzeit die schärfsten Töne angestimmt, denn, so Schimmeyer, bei „uns herrscht nicht nur Angst, sondern eine unheimliche Wut“.

Klaus Brekau, seit 1953 bei Hoesch, spricht von „einem blöden Gefühl im Magen“, wenn er an die Zukunft der Stahlbasis in Dortmund denkt. Der 55jährige ist bei jeder Aktion dabei, denn „wir müssen zeigen, daß man uns nicht einfach abschlachten kann“, aber sein „Gefühl“ verspricht nichts Gutes. Die von der Unternehmensleitung Krupp-Hoesch angekündigte Schließung der Rohstahlbasis entweder in Rheinhausen oder Dortmund hat inzwischen eine gefährliche Stimmung aufgebaut. Nicht nur bei den jungen Hoeschianern, die gegen Mitternacht, einige Bier sind inzwischen geflossen, immer und immer wieder an die Adresse des Hoesch- Aufkäufers Gerhard Cromme skandieren „Cromme, wir hassen dich, Cromme, wir kriegen dich“. „Schreib das bloß auf, das soll jeder wissen“, sagt ein 18jähriger Lehrling, der auch gleich bekennerhaft seinen hier fürsorglich unterschlagenen Namen nennt. Gewiß, man darf diese rausgebrüllte Wut der Jugendlichen, die dem Ruf „Wir sind das Volk“ sogleich „Borussia, wir holen den U-U-EFA-Cup“ folgen lassen, nicht für bare Münze nehmen. Aber der Frust auf die da oben in Politik und Wirtschaft war überall spürbar – nicht nur bei den Stahlkochern.

Eine aufgebrachte Gruppe von Bergleuten, sauer, daß in der ARD-„Brennpunkt“-Sendung direkt von der blockerten Kreuzung nur wenig über die bedrohliche Situation im Bergbau die Rede war, kann nur mit Mühe von besonnenen Kollegen daran gehindert werden, die Fernsehbühne zu stürmen. Der Zorn der Bergleute gilt auch ihrer eigenen Betriebsrats- und Gewerkschaftsführung, der sie Untätigkeit und Kungelei vorwerfen. Am vergangenen Sonntag war bekannt geworden, daß die Ruhrkohle AG ihre Verbundzeche Haus Aden/Monopol möglicherweise schließen will. „Ihr habt wenigstens noch Betriebsräte, die was sagen und tun, bei uns wird man nur vertröstet“, lautet der Vorwurf eines aufgebrachten Bergmanns, der von „wahnsinnigen Spannungen in der Belegschaft“ seit Bekanntgabe der Schließungspläne berichtet.

Knapp 2.000 Bergleute haben sich kurzfristig dem Protest der Stahlarbeiter angeschlossen. Als die Kameras ausgeschaltet sind, gelingt es ARD-Moderator Fritz Pleitgen, die gereizte Atmosphäre etwas zu entspannen. Die ARD werde den Protest weiter begleiten, denn „Sie sollen wissen, daß Sie nicht allein stehen in diesen schweren Zeiten, die Ihnen noch bevorstehen“. Dafür gibt es von den Stahlkochern und Bergleuten den größten Applaus.

Den verbreiteten Frust zu kanalisieren fällt inzwischen auch politisch wachen Betriebsräten schwer. Einerseits ist das Vertrauen auf die Problemlösungskompetenz von Politikern und Managern rapide verfallen, andererseits traut man auch den Gewerkschaftsführungen, die, wie IGM- Chef Steinkühler, selbst eingestehen, „ratlos“ zu sein, nicht allzuviel zu. Auch die sozialdemokratische NRW-Landesregierung, die diesmal von Beginn an versucht hat, anders als beim einstigen Kampf um Rheinhausen, überall präsent zu sein, stößt kaum auf Zustimmung. Der in Dortmund über die ARD zugeschaltete Regierungschef Johannes Rau erntet ebenso Pfiffe wie sein Arbeitsminister Franz Müntefering. Müntefering erlag der Versuchung, die ganze Verantwortung nach Bonn, Brüssel und auf die Billigimporte abzuschieben. „Wer in Europa für Butter stahlhart kämpft, der darf bei Stahl nicht butterweich sein.“

Demagogie gab es in der Nacht auch von linksaußen. „Es stimmt ja gar nicht, daß der Stahl nicht verkauft werden kann“, wollte eine Zeitungsverkäuferin der MLPD dem langjährigen Stahlkocher Klaus Brekau weismachen. Doch der wußte es besser. „Die Lager sind voll – überall. Schau doch mal in die Hallen.“ Eine tonnenschwere 500 Grad heiße Stahlbramme haben die Stahlkocher mitgebracht. Zusammen mit Spundbohlen und riesigen Blechrollen soll damit die B1 dicht gemacht werden. Es hätte des Stahls nicht bedurft, denn die frühzeitigen Sperren und Umleitungen der Polizei bescheren den Demonstranten bei der Ankunft eine autofreie Schnellstraße. Erst am nächsten Morgen um sieben ziehen die Stahlkocher wieder ab. Die Blechlawine folgte auf dem Fuße...