: Notruf-betr.: "Frauen sind nirgendwo sicher", taz vom 6.2.1993
Betr.: „Frauen sind nirgendwo sicher“, 6. 2. 1993
Seit Jahren bemüht sich der NOTRUF FÜR VERGEWALTIGTE FRAUEN UND MÄDCHEN e.V. um einen Abbau der Vorurteile gegenüber vergewaltigten Frauen. Diese Vorurteile drücken sich u.a. in guten Ratschlägen aus, die Frauen immer wieder gegeben werden.
Folge dieser Ratschläge ist, (Mit-)schuld für die sexuelle Gewalttat bei Frauen zu suchen und die Täter von der Verantwortung für die ausgeübte Gewalt zu entlasten.
Wie Sie zu Recht in Ihrem Artikel betonen, muß sich eine Frau, die sich in einer Vergewaltigungssituation nicht körperlich zu Wehr setzt, vor Gericht anhören, der Täter habe nicht erkennen können, daß sie nicht wollte. Dem zuzufügen wäre noch eine weitere Variante: der Täter bekommt mildernde Umstände, weil er nicht massive körperliche Gewalt angewandt hat.
Doch anstatt diese einseitige Auslegung des Gewaltbegriffes anzuprangern und eine rechtliche Änderung einzuklagen, beschränkt sich der Artikel auf Ratschläge, die allein die individuelle Anpassung der von Männergewalt bedrohten Frauen an die bestehenden Gewaltverhältnisse nahelegen.
Frauen befinden sich in einem Dilemma: Einerseits sind sie „nirgendwo sicher“ andererseit wird ihnen, wie auch in Ihrem Artikel, suggeriert, sie könnten sich schützen bzw. die Gefahr vermindern, indem sie sich die wohlgemeinten Ratschläge zu Herzen nehmen - wie: nicht bei offenem Fenster zu nächtigen, die Vorhänge geschlossen zu halten, nicht durch dunkle Parks zu gehen und immer mehr als zwei Zentimeter Abstand von Büschen und parkenden Autos zu halten, etc. Wird eine Frau vergewaltigt und bleibt der „gezielte, kräftige Schlag in die Hoden“ aus, hat sie gar Stöckelschuhe an, die sie am Wegrennen hindern, hat sie selber schuld.
In unserer täglichen Beratungsarbeit haben wir es mit Frauen zu tun, die genau durch diese Vorurteile, von denen Ihr Artikel nur so strotzt, doppelt belastet sind. Frauen, die vergewaltigt wurden, müssen nicht nur mit dem schweren Trauma der Vergewaltigung fertig werden, sondern sind darüber hinaus auch mit der Schuldzuweisung konfrontiert, die die Verarbeitung dieses an ihnen verübten Verbrechens erheblich erschwert.
Die Funktion dieser individualisierenden Schuldzuweisung liegt auf der Hand: Sie soll davon ablenken, daß Vergewaltigung ein strukturelles Problem unserer patriarchalen Gesellschaft darstellt.
(...) Frauen wird der Mythos des individuell möglichen Selbstschutes als millionenfach aufgelegter Präventionsratschlag immer wieder zugemutet!
Zudem müssen Frauen diagnostische Qualitäten mitbringen - nämlich einschätzen können, ob ein ansonsten sympathischer neuer Bekannter im „sexuellen Bereich seine Gewalt austoben“ will - psychologische und hellseherische Fähigkeiten haben - ob sich z.B. ein Gespräch lohnt, um den Täter von Gewalt abzuhalten oder ob sie eventuell lieber gleich dreinschlagen soll - darüberhinaus sollte sie Ninja-Kampfesmut und -kraft vorweisen, wenn sie im zwanzigsten Jahrhundert ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung in Anspruch nehmen will.
Verdeckt wird eine Sicht, die Vergewaltigung als patriarchales Machtinstrument erkennen läßt. Daher auch in Ihrem Artikel kein Gedanke an Forderungen nach längst überfälligen Gesetzesänderungen, keine Ideen zum Thema „antisexistische Jugendarbeit“ und „Antiaggressionstraining wehrpflichtiger Männer“.
Der Ausgangspunkt - Männergewalt - wird nicht in Frage gestellt, entpolitisiert; bestehende HERRschaftsverhältnisse werden zementiert. Mit Ihrem Artikel haben Sie dazu beigetragen. J. Brandewiede und M. Werner
NOTRUF FÜR VERGEWALTIGTE FRAUEN UND MÄDCHEN e.V.
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