■ Das zweifache Scheitern eines Befriedungsprojekts: Der Vance-Owen-Plan von 1903
Im Herbst 1903 trafen sich Zar Nikolaus II. und Kaiser Franz Josef an einem idyllischen Ort in der Steiermark, um eine gemeinsame politische Linie in der Mazedonienfrage festzulegen. Der kleine Ort an dem Flüßchen Mürz hat dem weltpolitischen Positionspapier den Namen gegeben: Mürzsteger Reformprogramm. Es sollte in Mazedonien ein sehr ähnliches Problem lösen wie der Vance- Owen-Plan in Bosnien. Es scheiterte wie sein Nachfahre.
Frühe Tschetniks
Die Region Mazedonien war 1878 nach dem Sieg Rußlands über das Osmanische Reich im Vorfrieden von San Stefano dem neu entstandenen Fürstentum Bulgarien zugesprochen worden. Diese Entscheidung wurde im gleichen Jahr durch den Berliner Vertrag revidiert. Mazedonien blieb Teil des Osmanischen Reiches und wurde seitdem von Bandenkriegen heimgesucht. Bulgarien machte den Anfang. Es stützte sich dabei auf die jahrhundertelange balkanische Tradition des Hajdukentums. Hajduken waren Sozialbanditen, junge Leute, die, unter anderem um der Rekrutierung zu entgehen, in das unwegsame Balkangebirge flohen, Banden bildeten und von Raub lebten. Ihre Raubzüge richteten sich bevorzugt gegen Türken, so daß sie die Aura von Volksbefreiungskämpfern umgab. Diese Hajduken wurden nun der Führung der regulären bulgarischen Armee unterstellt, weshalb Banden jetzt Kompanien, „Tscheta“, und Hajduken „Tschetniks“ genannt wurden. In Griechenland hießen sie „Klephtes“ – Diebe – und stellten das militärische Potential im Kampf um die griechische „Befreiung“ weiterer Gebiete. Griechen und Serben, auch sie Nutznießer des Hajduken-Potentials, auch sie bestrebt, einen Teil Mazedoniens zu annektieren, wußten, wie sie auf die bulgarische Herausforderung zu reagieren hatten. Gegenüber den Großmächten machten sie geltend, daß sich die irregulären Banden ihrem Einfluß entzögen. Was übrigens nicht immer Lüge war: Manche Tschetniks oder Klephtis kehrten schließlich doch zur privatunternehmerischen Räuber-Existenz zurück.
1903 drohte zum Schicksalsjahr des Balkans zu werden. In Serbien wechselte nach der Ermordung König Alexander Obrenowitschs die Dynastie und die Wahl der Schutzmacht. Serbien wandte sich von Österreich-Ungarn ab und Rußland zu. Österreich-Ungarn übernahm den früheren russischen Schutzbefohlenen Bulgarien. Frankreich hatte jetzt Griechenland als Klienten. Deutschland sah im Bündnis mit dem Osmanischen Reich immer noch die beste Kapitalverwertungsgewähr.
Seit einem Jahr hatten sich außerdem in Mazedonien selbst die Ereignisse überschlagen. Ende September 1902 hatten bulgarische Tschetniks versucht, einen größeren Aufruhr auszulösen. Im April und Mai 1903 erschütterten mazedonische Anarchisten durch spektakuläre Attentate Saloniki. Schließlich hatte die Innere Makedonische Revolutionäre Organisation am 3. August versucht, einen Massenaufstand zu entfachen. Alle drei Aktionen verfehlten ihr erklärtes politisches Ziel.
Der Meisterplan
Damit auch ihr nicht erklärtes, aber sehr viel wichtigeres Ziel unerreicht bleibe, trafen sich Zar Nikolaus II. und Kaiser Franz Josef in Mürzsteg. Denn es galt, was auch heute für den Balkan gilt: Keine der Großmächte wollte einen „richtigen“ Krieg. keine Großmacht wollte sich in einen Konflikt einmischen, in dem die Klienten die Spielregeln besser beherrschten als ihre Schutzherren.
Das Mürzsteger Reformprogramm enthielt im wesentlichen fünf Ziele. Erstens sollte eine unter internationaler Aufsicht umorganisierte Polizei den Landfrieden wahren. Zweitens sollte die Region Mazedonien, einmal befriedet, in möglichst ethnisch einheitliche Verwaltungsbezirke mit möglichst großer lokaler Autonomie eingeteilt werden. Drittens war die Bildung einer Kommission zur Erfassung der begangenen Verbrechen vorgesehen. Viertens sollten die Vertriebenen in ihre Heimatdörfer zurückkehren und finanzielle Unterstützung für den Wiederaufbau ihrer Dörfer erhalten. Fünftens sollten die irregulären Banden aufgelöst werden.
Der erste, unmittelbar spürbare Erfolg der Mürzsteger Beschlüsse war exakt das Gegenteil dessen, was der letzte Punkt vorsah. Der Bandenkrieg eskalierte dramatisch. Damit rückte das Kernstück des Reformprogramms in utopische Ferne: die Kantonalisierung (denn nichts anderes war die Neuziehung der Verwaltungsbezirksgrenzen nach ethnischen Kriterien).
Es ist immer leicht, im nachhinein zu erklären, warum es denn kam, wie es nicht anders kommen konnte. Die Mürzsteger Beschlüsse stellten jedoch einen besonders glücklichen Fall dar, in dem diese Erklärung auch von vornherein leicht gewesen wäre: Nicht nur siedelten in Mazedonien außer Mazedoniern auch Bulgaren, Griechen, Serben und Albaner, sondern außerdem noch eine Vielzahl weiterer Völkerschaften, die exakt abzugrenzen auch einen heutigen Ethnologen in Verlegenheit bringen würde. Daß sich eine Gruppe mal dieser, mal jener „Ethnie“ oder je nachdem, woher sie die größten Vorteile erwartete, wieder einer anderen zurechnete, kann nicht wundern. Deshalb mußte der in den Mürzsteger Beschlüssen zugrundeliegende Begriff der „Nation“ scheitern. Es waren auf dem Balkan nur zwei objektive Kriterien für die Nationalität möglich: erstens der alte osmanische Begriff der Nation, der „millet“, der mit der Religionszugehörigkeit identisch ist und zweitens die Sprache. Es hätte klar sein müssen, daß das Mürzsteger Programm Griechen, Bulgaren und Serben ein doppelt zwingender Grund war, den Bandenkrieg zu intensivieren. Die Durchführung der Verwaltungsreform wurde verzögert, während sie Zeit dafür gewannen, möglichst viel Land ihrer Kontrolle zu unterwerfen.
Ethnic Cleansing nach 1903
Die Banden spielten dabei in zweierlei Hinsicht eine Hauptrolle. Zum einen brannten sie Dörfer nieder, mordeten und vertrieben die Einwohner. Dies also durchaus der heutigen „ethnischen Säuberung“ vergleichbar. Zum anderen erleichterten sie in einer Region, in der das Recht der Stärkeren als „naturrechtliche“ Legitimation der Herrschaft empfunden wurde, den serbischen, griechischen, bulgarischen Geistlichen die „Evangelisierungsarbeit“. Es ging darum, über Schüler und Seelen ethnisch möglichst homogene Gebiete durch „Jäten“ und durch „Pflanzen“ herbeizuführen. Inbegriff bis in den Eigennamen dieses Schul-, Kirchen- und Bandenkampfes dürfte der griechisch-orthodoxe Bischof der mazedonischen Stadt Kastoria gewesen sein, der immer schwerbewaffnet zu seiner Herde zu gehen pflegte (man wußte nicht, ob er seine Schäfchen schlachten oder segnen würde) und bürgerlich Germanos Karevangelis hieß.
In einem Punkt waren die Mürzsteger Beschlüsse womöglich realistischer als der Vance-Owen-Plan. Sie sahen zur Wiederherstellung der Ruhe eine Gendarmerie vor, keine UNO-Streitkräfte, die nicht Armee sein dürfen und die Aufgaben einer Gendarmerie den irregulären Banden überlassen müssen. Allerdings gelang es auch dieser Gendarmerie nicht, die Hajduken zu entwaffnen, die, wie es ein General der k.u.k. Armee anmerkte, nicht einmal während des Gottesdienstes sich von ihrer Muskete trennen konnten. Robert Detobel
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