: Kein Zufluchtsort
■ Günter Kunert las am Samstag auf Asylwohnschiff „St. Hallvard“
hier bitte
die Leute
im Saal
Die Asylbewerber sitzen ganz hinten und verstehen - nichtsFoto: Björn Hake
Samstagnacht am Allerhafen in Hemelingen. Es ist gottverlassen und stockdunkel, der Wind peitscht einem den Regen ins Gesicht. Kein Ort, an dem man Zuflucht sucht. Und doch, unten im Hafenbecken, liegt ein erleuchtetes Schiff: das Wohnschiff „St. Hallvard“ für Asylbewerber. Dort liest heute abend Günter Kunert im Rahmen der der bundesweiten Aktion: „Eine Nacht in Deutschland — Dichter in Asylbewerberheimen“.
180 Männer leben zur Zeit auf der „St. Hallvord“, etwa 15 Nationalitäten. Aber keiner von ihnen ist vor Beginn der Lesung zu sehen. Nur wir stehen da, die von außen kommen und auf Günter Kunert warten: einige Damen von der Arbeiterwohlfahrt, die das Schiff betreuen, eine Dolmetscherin, die Senatorin für Kultur und Ausländerintegration Helga Trüpel, Fotografen und Presseleute und eine Handvoll privat Interessierter, insgesamt vielleicht 20 Leute. Doch die Bemühungen der AWO-Da
men tragen Früchte: So langsam schlurfen doch noch etwa 15 Asylbewerber in den Aufenthaltsraum des Schiffes, setzen sich ganz nach hinten.
Jürgen Serke von der „Else- Lasker-Schüler-Gesellschaft“, die die Aktion ins Leben gerufen hat, spricht einführende Worte. Seit dem 9. November liest jeden Samstag abwechselnd in Ost- und Westdeutschland ein Dichter in einem Asylbewerberheim — als Ausdruck der Solidarität.
Dann Kunert. Er liest kleine Prosastückchen. „Neues von Sisyphus“ zum Beispiel. Sisyphus gelang es, den Stein auf den Berg hinaufzurollen. Und nun, zur Tatenlosigkeit verurteilt, ist er nicht zur Muße fähig. Er sehnt sich nach dem Stein. Eine Geschichte, die sich unmittelbar mit der Situation derer verbindet, die da hinten sitzen und — nichts verstehen.
Ich frage Kunert, wie er es empfindet, daß die, derentwegen er eigentlich gekommen ist, die Asylberwerber, nichts von dem verste
hen, was er liest. Das störe ihn nicht, meint er, der Kern der Sache sei nicht, daß jemand eine Geschichte versteht, sondern warum wir hier sind.
Wird die symbolische Aktion (so nennt sie Jürgen Serke) denn verstanden? Die Dolmetscherin fragt nach. Doch, der symbolische Gehalt ist den Asylsuchenden deutlich und wichtig. Aber mehr am Herzen liegt ihnen, mit uns, die noch geblieben sind nach der Lesung, über ihre Situation zu reden, ihre Isolation, über das Problem, sich das Leben im Wartestand zu strukturieren.
Ein Problem ist auch, daß die Bewohner der „St. Hallvard“ auch miteinander kaum reden können. Die Fremdheit zwischen denen, die aus Rußland kommen und jenen aus Schwarzafrika ist groß.
Ein paar aufgenommene Gesprächsfäden, schon wieder fallengelassen, die Zeit ist vorbei, wir gehen hinaus zum Auto, das uns weit wegbringt von dieser „Zufluchtsstätte“. Christine Spiess
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen