„Rußland bleibt eine Großmacht“

Nationalistische Opposition zwingt Jelzin zur Korrektur seiner Balkanpolitik/ Dabei geht es jedoch weniger um eine „panslawische Wende“ als um eine Akzentverschiebung  ■ Aus Moskau Andrej Fadin

„Rußland bleibt eine Großmacht. Rußlands Einfluß auf dem Balkan ist ungebrochen.“ Diesen Eindruck versuchten die russische Regierung und Präsident Boris Jelzin seit Beginn des Krieges zwischen den Republiken des ehemaligen Jugoslawien zu vermitteln. Zielobjekt der bemühten Demonstration waren dabei nicht nur der Westen und die Balkan-Staaten, sondern vor allem auch die eigene Bevölkerung. Unterstrichen und gepflegt wurde sie durch wiederholte Visiten verschiedener Würdenträger in Belgrad. Ein deutliches Zeichen gegen die Bestrebungen Griechenlands und die Politik der EG setzte außerdem die Anerkennung Mazedoniens.

Bei alledem wahrte Jelzin jedoch eine prowestliche Linie. Und so wuchs die Kritik, die er durch sie auf sich zog, proportional zu den innenpolitischen Problemen des Landes. Im Januar druckte die Zeitung Den, das Organ der ultranationalistischen Opposition, das Stenogramm einer geheimen Unterredung zwischen Jelzin und Bush in Moskau, in deren Verlauf der erstere vorgeschlagen hatte, russische Düsenjäger zur Kontrolle des Luftraumes über Bosnien einzusetzen. Und dies ohne Erlaubnis des Obersten Sowjets.

Ein Skandal reifte heran, in dessen Folge Jelzins Popularität bei Meinungsumfragen einen neuen Tiefstand erreichte. Die Kritik am Außenministerium und an der Außenpolitik hatte sich somit für die Opposition als wirksames politisches Instrument erwiesen. Ihre Bemühungen zielten dabei allerdings weniger auf einen Änderung der russischen Politik in der jugoslawischen Krise, sondern vielmehr auf den Sturz der Regierung.

Um der Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen, mußte Jelzin jedoch einen Teil ihrer Losungen übernehmen – und vor allem alle Anschuldigungen von der Hand weisen, er verrate die nationalen Interessen und krieche vor dem Westen zu Kreuze.

Dies ist der Grund für die zunehmende Distanzierung der russischen Jugoslawien-Politik von der Position des Westens nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Gajdar. Wenn sich die Regierung in den ersten Monaten des „Dritten Balkan-Krieges“ noch in voller Übereinstimmung mit dem Westen bemüht hatte, „den Aggressor zu entlarven“, so wurden schon Ende 1992 die Konturen des „ausgleichenden Ansatzes“ sichtbar. Daraus entstand schließlich die Formel von der „gleichen Verantwortung der verschiedenen Seiten“, die in Ex-Jugoslawien gegeneinander Krieg führen. Außenminister Kosyrjew machte nun deutlich, daß Rußland im Weltsicherheitsrat keinerlei militärische Maßnahmen gegen Serbien unterstützen wird. Das außenpolitische Komitee des Obersten Sowjets und das Außenministerium, die sich lange gegenseitig kritisiert hatten, veröffentlichten vor zwei Wochen ein gemeinsames Dokument zu dieser Frage.

Gezeigt hat sich die Akzentverschiebung auch in Jelzins krasser Verurteilung des letzten kroatischen Angriffs gegen die serbisch kontrollierte Krajina. Auf diese Erklärung folgte ein Blitzbesuch des stellvertretenden Außenministers, Witalij Tschurkin, in Zagreb, wo er die Kroaten vor möglichen schweren Folgen derartiger Aktionen warnte. Rußland hat in diesem Falle von allen ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates die unnachgiebigste Position bezogen. Die westlichen Bündnispartner – noch ganz in Anspruch genommen von den Verhandlungen über den Vance-Owen-Plan und in die Diskussion militärischer Aktionen gegen die Serben vertieft — hatten auf die neue Entwicklung praktisch nicht reagiert.

Derweil ging auch die russische Presse von der „Entlarvung der Aggressionen Miloševićs“ zu der Feststellung über, daß es im Nach- Jugoslawien „weder Schuldige noch Unschuldige“ gebe. Heute sieht die russische Öffentlichkeit in den Serben zunehmend die slawischen Brüder, die ihrer Mission als Stütze der jugoslawischen Einheit zum Opfer gefallen seien. Zugleich betrachten die RussInnen die Probleme des ehemaligen Jugoslawien mehr und mehr als Teil ihrer eigenen inneren Probleme. Nicht nur, weil hier eine alte panslawische Mythologie fortwirkt, sondern auch angesichts der vermeintlichen Ähnlichkeit zwischen dem Schicksal der Serben in den ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken und dem Schicksal der Russen in den nichtrussischen Ex-Sowjetrepubliken. Sehr leicht zieht man so zum Beispiel die Analogie zwischen der Lage der Serben in der kroatischen Krajina und der Situation der Russen in der Transdnjestr-Region Moldovas, auf der Krim oder in Abchasien. Die westliche Verurteilung Serbiens erscheint vor diesem Hintergrund als krasse Ungerechtigkeit.

Das Spiel mit den Sympathien für die Serben haben sich jedoch nicht nur die Opposition, sondern auch einige „Großmacht-Demokraten“ zunutze gemacht – wie zum Beispiel der Vorsitzende der parlamentarischen Verfassungskommission, Oleg Rumjanzew. Ihnen geht es dabei darum, ihre Karriere durch einen risikoarmen Einsatz zu beschleunigen.

Unter diesen Bedingungen kommt Jelzins – im großen und ganzen – prowestliche Führungsmannschaft nicht umhin, mit den Stereotypen der russischen Mentalität zu rechnen – und die Unabhängigkeit ihrer Außen- und besonders Balkanpolitik vom Westen noch stärker herauszustellen. Eine reale Konfrontation mit dem Westen wird sie dabei allerdings kaum inkaufnehmen.

Der Autor ist Mitarbeiter der russischen Zeitschrift Das 20. Jahrhundert und die Welt, Übersetzung: Barbara Kerneck