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Es gibt noch Bäume in Jerewan

Strom und Wasser sind in Armenien die Ausnahme/ Aus Mangel an Heizmaterial brennen die Menschen den kargen Baumbestand ab/ Jeder siebte will ausreisen  ■ Aus Jerewan Julia Jacoby

Ein Häuserzug erwacht. Es ist drei Uhr nachts, und dennoch gehen hinter allen Fenstern die Lichter an. Überall wird geputzt, gewaschen, Essensdüfte ziehen durch die Flure. „Luis ka“, es gibt Licht, es gibt Strom. In Jerewan schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr.

Armenien befindet sich im zweiten Winter, der ganz im Zeichen der Energiekrise steht. Das Land ist, wie viele andere, arm an Energieträgern. Heute ist Armenien zu 96 Prozent von Rohstoffimporten zur Energieerzeugung abhängig. Seit Beginn der Blockade durch Aserbaidschan im August 1989 geht es mit der Versorgung kontinuierlich bergab. „Die Energiesituation ist jetzt katastrophal. Im Moment haben wir nur 10 Prozent der Brennstoffe, die wir für ein normales Leben brauchen und die wir vorher auch hatten“, sagte Edward N. Azumanjan, stellvertretender Minister für Energie und Brennstoffe Ende Januar. Wenige Tage zuvor war wieder einmal die Gasleitung, die durch Georgien führt, gesprengt worden. Präsident Levon Ter-Petrosjan informierte die angrenzenden Länder und Rußland, daß Armenien nicht mehr für die Sicherheit seines seit vier Jahren abgeschalteten Atomkraftwerkes Mezamor garantieren könne. Es gebe zu wenig Energie, um die notwendige Kühlung aufrechtzuerhalten.

Zu den Zeiten der Sowjetunion deckte Armenien 20 Prozent seines Energiebedarfs mit Atomstrom. Der überwiegende Rest wurde aus Erdgas und Öl gewonnen, das Armenien billig aus dem Riesenreich bekam. Die meisten kleinen Wasserkraftwerke, mit denen das Land traditionell seine Energie produzierte, waren schon in den 20er Jahren der Stalinschen Industrialisierung zum Opfer gefallen.

Eine gute Woche lang erhielt jeder Haushalt in Jerewan nach der Sprengung der Leitung eine Stunde Strom täglich. Nach dem Appell leistete Rußland intensive Hilfe bei den Reparaturarbeiten an der Gasleitung. Am 1.Februar war der schlimmste Schaden behoben. Bestenfalls gibt es jetzt Strom im Sechs-Stunden-Takt. Doch die Situation ist weiter sehr ernst. Das zentrale Heizungssystem der Stadt ist wieder nicht in Betrieb; die Wohnungen werden mit Strom beheizt. Dadurch wird jedoch das Stromverteilungsnetz überlastet. Überall kommt es zu Havarien im Leitungssystem, die die betroffenen Bezirke tage- und wochenlang ganz ohne Energie lassen.

„Ich habe seit mehr als drei Wochen keinen Strom“, sagt Armen Karapetjan. Er arbeitet im Kindermuseum Jerewans, das zwei Stunden täglich geöffnet ist. Normalerweise ist Karapetjan tadellos rasiert und gepflegt, jetzt gibt ihm sein grauer Mehrtagebart ein etwas verkommenes Aussehen. „Wenn ich morgens ins Bad komme, ist auf dem Wasser, das ich zum Waschen aufgespart habe, eine zentimeterdicke Eisschicht. Zu meinen Bekannten will ich nicht gehen. Die haben alle Kinder und brauchen das bißchen Strom, das sie haben, selbst.“

Langfristig schlimmer als die Beschränkungen für den privaten Verbrauch sind die Auswirkungen der Energiekrise auf die Wirtschaft des Landes. Nur Fabriken, die lebenswichtige Güter wie Brot produzieren, arbeiten noch. Auch die Wasserpumpen werden so lange in Betrieb gehalten, daß jeder Haushalt einmal täglich Wasser hat. Dennoch sind an vielen Stellen der Stadt die Wasserleitungen eingefroren. Universitäten, Schulen, Kindergärten, fast alle staatlichen Institutionen sind seit Anfang Dezember geschlossen. Der Stillstand der Industrie und des öffentlichen Lebens bedeutet für viele Wirtschaftszweige den Tod.

Ein Teufelskreis: Die qualifizierten Fachleute verlassen das Land, da sie keine Arbeit mehr finden – allein im letzten Jahr gingen bei der Registrierungsbehörde OWIR über 500.000 Ausreiseanträge (ein Siebtel der Gesamtbevölkerung) ein. Auf diese Weise verliert Armenien wichtige Kräfte, es blutet aus.

„Ich kann mir für mein Gehalt keine zwei Kilo Butter leisten“, sagt Karine Mndjojan, Russischlehrerin an der staatlichen Universität Jerewan. „Auch mit Privatstunden komme ich nicht weiter. Bald bin ich sowieso meinen Beruf los, man will unseren Lehrstuhl zumachen. Mein Mann ist Physiker, aber er ist arbeitslos und findet nur gelegentliche Jobs.“ Karine ist nach Moskau gegangen, wo ihr ein Verwandter eine Stelle besorgt hat. Sie will versuchen, von dort aus in die USA zu kommen und ihre Familie nachzuholen. „Dort hat mein Sohn eine Zukunft. Im Ausland haben wir Armenier immer irgendwie Erfolg.“

Noch stehen Bäume in Jerewan. Doch überall sieht man Menschen, die Holzbündel schleppen oder dabei sind, Bäume zu fällen. Wer reich genug ist, kann sich mit einem Kerosinofen ein kleines Stück Unabhängigkeit von den täglichen Rationierungen des Stroms erkaufen. Nur sehr wenige Familien verfügen allerdings über umgerechnet 100 Dollar (etwa ein Jahreslohn), die die Anschaffung kostet. Doch Raumtemperaturen um fünf Grad Celsius sind auf die Dauer unerträglich. Daher hat in den letzten Wochen ein Run auf selbstproduzierte Holzfeueröfen eingesetzt, die etwa zehn Dollar kosten. Nun stehen diese einfachen, aus Blechen gezimmerten Kisten auf vier Beinen in vielen Wohnungen, wo sie dem sonst modernen Ambiente ein seltsam mittelalterliches Aussehen verleihen. Aus den Fenstern der Häuser ragen Schornsteine und rauchen den kargen Baumbestand Armeniens in die kalte Winterluft. Auch Lusine Habobjan hat sich einen solchen Ofen angeschafft. Sie legt Holz nach. „Gerne mach' ich das nicht“, sagt sie, „aber jetzt ist es wenigstens warm hier, und man kann auf dem Ding sogar kochen. Wir hatten am Ende noch zwei Grad Celsius. Meine Tochter Jeva wird gerade zwei Monate alt. Was soll ich denn tun?“

Die Regierung ist mit der Situation überfordert. Auf die Frage, was kurzfristig unternommen werde, antwortet Arzumanjan: „Zur Zeit ist die Wasserkraft unsere einzige Energiequelle. Wir verfügen über etwa zwölf Millionen Kilowattstunden pro Tag, was sehr wenig ist. Die Regierung ist ausschließlich mit der Verteilung dieser Energie beschäftigt.“ Das Wasserkraftwerk wird hauptsächlich aus dem Sewan-See gespeist, dessen Wasserstand jährlich um rund 30 Zentimeter sinkt – insgesamt schon um 19 Meter.

Die einzige Alternative sieht das Energieministerium ausgerechnet in der Inbetriebnahme des Atomkraftwerkes Mezamor. Seit einem Jahr versucht man, einen entsprechenden Beschluß im Parlament durchzubringen, doch die Abgeordneten bestehen auf einem Referendum. Das aber will der Energieminister Sebouh Tashijan, der seit 13 Monaten im Amt ist, um jeden Preis vermeiden. „Ohne Atomkraftwerk kann Armenien nicht überleben“, meint er. Aber er weiß auch, daß viele Armenier das Kraftwerk für gefährlich halten. Bei dem Erdbeben 1988 entging man nur knapp einer Nuklearkatastrophe.

Nach vierjährigem Stillstand ist die Anlage in einem erbärmlichen Zustand. Wichtige Teile der technischen Ausstattung wurden gestohlen, und viele der erfahrenen Techniker haben das Land verlassen. Die Kosten der Inbetriebnahme schätzt Tashijan auf 100 Millionen Dollar, und bis das Werk tatsächlich wieder Strom produziert, werden mindestens zwei Jahre vergehen.

Sorab Melikjan, Professor am Institut für Architektur- und Bauwesen in Jerewan und Leiter des Lehrstuhls für Energie, Heizung und Wärmeverteilung, sieht andere Perspektiven: „Wir müssen uns neue Energiequellen erschließen und die vorhandene Energie wesentlich effektiver nutzen.“ Etwa 30 Prozent könnte man einsparen, schätzt er. Melikjan sieht gute Chancen für die Nutzung alternativer Energien in Armenien, wie Sonnen- und Windenergie oder Wärmepumpen. „Die Regierung sollte alles dafür tun, Joint- ventures in Armenien zu organisieren, beispielsweise für die Produktion von Isolierungen aus dem in unserem Lande reichlich vorhandenen Perlit.“ Auch unter dem ökonomischen Aspekt würde sich das lohnen, meint er, da der Bedarf in Armenien, aber auch in anderen Staaten groß sei. Armenien bleibt nicht viel Zeit, neue Wege auszuprobieren. Aber hat das Land andere Möglichkeiten?

Die Straßen Jerewans sind dieser Tage voller Menschen. Es sind nicht etwa Demonstranten, die sich in großen Scharen beispielsweise von der Bagramjan-Straße hin zum Maschtoz-Prospekt bewegen. Die Energiekrise hat das öffentliche Verkehrssystem lahmgelegt. Alle Wege müssen zu Fuß bewältigt werden. Da auch die meisten Telefone nicht mehr funktionieren, muß man jede Information und jede Frage persönlich überbringen – eine enorme Behinderung für das städtische Leben. Zugleich quellen die Mülltonnen und Müllschlucker der Häuser über, wahre Rattenparadiese sind entstanden. Schritt für Schritt geht die Entwicklung Armeniens rückwärts.

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