: „Woher sollte ich einen Molli haben?“
Der erste wegen versuchten Mordes angeklagte Randalierer von Rostock streitet alles ab/ Er will „nur rumgestanden“ haben/ Zwei Polizeizeugen: Er hat geworfen ■ Aus Rostock Bettina Markmeyer
Rot wird er nur einmal. Sein Richter fragt ihn, warum er bei früheren Vernehmungen eine andere Version geliefert habe als heute, am ersten Tag seines Prozesses. „Ich habe nicht richtig nachgedacht“, sagt Bernd T. Er habe in jener Nacht schließlich nicht geschlafen, sei bei der ersten Vernehmung, wenige Stunden nach seiner Festnahme, noch betrunken gewesen. Aber auch vor dem Haftrichter, nüchtern und zum zweiten Mal, habe er seine Nacht in Lichtenhagen so geschildert wie beim ersten Mal, beharrt der Richter, Manfred Luckow, ein Hamburger.
Offensichtlich hatte der schlaflose Bernd T. doch nachgedacht. Auf dem Weg zum Zeltplatz Prerow an der Ostsee, so seine erste Aussage, sei er auf der Suche nach einer Tankstelle mit einem Kumpel in dessen Auto zufällig nach Lichtenhagen geraten und habe sich unter die Menge an der S-Bahn-Brücke gemischt. Da sei die Polizei vorgerückt, die Leute zurückgewichen, er mit, aber zu langsam. Von hinten hätten ihn Polizisten gepackt, getreten und geschlagen, festgenommen, durchsucht und in einen Barkas verfrachtet. Alles habe nur wenige Minuten gedauert. Weder habe er einen Molotow-Cocktail auf Polizisten geworfen noch „je so ein Ding in der Hand gehabt“.
Genau seit einem halben Jahr sitzt Bernd T. nun in Bützow in Untersuchungshaft. Die Anklage in dem am Dienstag eröffneten Prozeß vor dem Rostocker Landgericht gegen den 22jährigen Berliner lautet auf versuchten Mord. Es ist die erste. Bernd T. soll einen Brandsatz gezielt auf einen Polizisten geworfen haben. Vorgeführt wird er in Handschellen. 410 Ermittlungsverfahren hat die Rostocker Staatsanwaltschaft nach den Lichtenhagener Krawallen eingeleitet, hundert wieder eingestellt, 25 Prozesse wurden geführt, alle vor dem Amtsgericht. Sie endeten mit Freisprüchen, Verwarnungen, Bewährungsstrafen und in zwei Fällen mit Freiheitsstrafen unter einem Jahr. Zum Prozeß gegen Bernd T. ist die Presse versammelt, nur zwei Reihen Stühle bleiben den ZuhörerInnen. Die Sonne scheint schräg in den kleinen Raum. Die Stimmung ist gelassen – als begänne man nun wirklich, die Rostocker Untaten aufzuarbeiten. Gegen wenigstens fünf weitere Randalierer soll hier demnächst noch wegen versuchten Mordes verhandelt werden.
In der Nacht vom 24. auf den 25. August 1992, in der die ZASt brannte und hundert VietnamesInnen vor Rauch und Feuer fliehen mußten, fuhr Bernd T. nach Lichtenhagen. Am Abend war er mit zwei Freunden aus Berlin aufgebrochen, frisch betankt auf die Autobahn gefahren mit einer Flasche Whisky und anderthalb Liter Cola als Proviant. 36 Mark hatte Bernd T. dabei. „Damit komme ich aus“, sagt er auf skeptische Fragen nach dem geplanten Zelt-Urlaub. Auf dem Weg tranken er und sein Kumpel Whisky-Cola, in Rostock war die Flasche leer. Im Radio hörten sie von Krawallen in Lichtenhagen. Angeblich weil sie erneut tanken mußten, verließen sie die Autobahn. Daß sie dabei nicht nach Osten abbogen, wo sofort eine Tankstelle zu finden gewesen wäre, sondern gen Westen gefahren waren, hatte Bernd T.s erste Darstellungen der Tatnacht unglaubwürdig gemacht.
„Aus Neugier“, sagt er nun, seien sie nach Lichtenhagen gefahren, hätten das Auto abseits geparkt. Der Fahrer sei dort geblieben, er habe sich mit seinem Trinkkumpan in der Nähe der S-Bahn- Brücke unter die Leute gemischt. „Steine sind ne Menge geflogen von beiden Seiten“, auch Tränengasbomben. Man habe „Schulter an Schulter“ gestanden, mehrere hundert „Zivilisten“ und noch mehr Polizei ihnen gegenüber. „Ich wollte das mal erleben. Man kennt das ja sonst nur aus dem Fernsehen.“ Was er an der S-Bahn-Brücke gemacht habe? „Nichts“, sagt Bernd T., „rumgestanden und geguckt“, insgesamt fast eine Stunde, sagt er heute. Was er gegen Asylbewerber habe, fragt der Vorsitzende Richter nicht.
50 Minuten nach Mitternacht wurde Bernd T. festgenommen. Luckow zeigt die Polizeifotos: ein Kerl mit kurzgeschorenem Haar, Bundeswehrhose, Schnürschuhen und einem weißen T-Shirt mit Totenköpfen drauf. Heute trägt der Angeklagte Jeans und Turnschuhe. Die Hände legt er auf dem Tisch übereinander, die braunen Haare sind gewachsen. „Ich war noch nie politisch orientiert gewesen, zu DDR-Zeiten nicht – und heute erst recht nicht“, sagt der gelernte Maler. – Zwei Meter neben den Polizisten Rudnitzki und Müller explodierte der Molotowcocktail, den Bernd T. geworfen haben soll. „Woher sollte ich das Ding haben“, fragt der Angeklagte.
Ren Rudnitzki, erster Zeuge am zweiten Prozeßtag, beschreibt Bernd T.s Aussehen in der Brandnacht als „typisches Erscheinungsbild eines Skinheads“. Rudnitzki war als Greifer einer Gruppe Polizisten vorangestürmt, die die „Störer“ auf der Flensburger Straße gegenüber der ZASt abdrängen sollten. Von hinten schrie ein Kollege „Vorsicht Molli!“, da habe er rechts „zwei Personen“ in einem Torborgen stehen sehen, einer mit dem schon brennenden Gegenstand in der Hand. Er wich aus, der Molli verfehlte ihn, explodierte, brannte. Nach einer „Schrecksekunde“ habe er dem „Werfer“ nachgesetzt und ihn gepackt. Viermal bestätigt Rudnitzki dem Gericht, „hundertprozentig den Werfer“ und niemand anderen gegriffen zu haben. Er drückte Bernd T. zu Boden, ein Kollege kam ihm mit Handschellen zu Hilfe, zu zweit führten sie ihn ab. Nein, getorkelt sei der nicht – nur habe sich T. „erstaunlich ruhig verhalten“. Weder habe er noch in seiner Anwesenheit ein Kollege den Festgenommenen getreten oder geschlagen, sagt Rudnitzki. Bernd T. aber hatte Blutergüsse an beiden Oberschenkeln, Schulter und Arm, vermutlich von einem Schlagstock.
Roland Müller, der zweite Zeuge und ebenfalls von der Bereitschaftspolizei Waldeck, bestätigt Rudnitzkis Schilderung bis ins Detail. Auch er habe im übrigen nicht zugeschlagen. Müller hatte den Kollegen gewarnt, weil er den Werfer und den zweiten Mann mit dem Feuerzeug zuerst sah. Auch er ist sicher, daß Rudnitzki „den Werfer festgenommen“ hat.
Aussage gegen Aussage also. Gestern nachmittag wurden Bernd T.s wenig glaubwürdige Freunde vernommen. Der Fahrer will gar nichts mitbekommen haben. Sein anderer Kumpel erklärte, T. habe die S-Bahn-Brücke nicht verlassen. Wie das Urteil ausfällt, ließ sich gestern vor dem Abend nicht absehen.
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