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Georgien, ein „zweites Afghanistan“?

Zwischen Georgien und Rußland droht eine militärische Konfrontation/ „Rußland eskaliert den Krieg“/ Nationalistischer Druck auf Georgiens Präsident Schewardnadse wächst  ■ Aus Tbilissi James Dorsey

Georgiens Präsident Eduard Schewardnadse muß dieser Tage einen politischen Drahtseilakt vollführen. Er muß eine offene Konfrontation mit dem „großen Bruder“ Rußland vermeiden und gleichzeitig den wachsenden inneren Druck für einen Abbruch der Beziehungen zwischen Tbilissi und Moskau auffangen.

„Diese Woche ist entscheidend für die georgisch-russischen Beziehungen“, sagt Schewardnadses außenpolitischer Berater Gela Tscharkviani. Das frostige Klima ist Folge des russischen Bombenangriffs auf Sukhumi, Hauptstadt der kriegsgeschüttelten Region Abchasien im Nordwesten Georgiens, am vergangenen Wochenende. Fast zwanzig Menschen starben in diesem, nach russischer Darstellung, „Vergeltungsschlag“ für vorherige georgische Angriffe auf russische Armeestellungen. Zum ersten Mal bsstätigte Rußland damit offiziell seine Verwicklung in den sieben Monate alten Konflikt um Abchasien.

Der russische Verteidigungsminister Pawel Gratschow heizte die antirussischen Gefühle in Georgien noch weiter an, als er am Dienstag den russischen Truppen in Georgien Schießbefehl erteilte und erklärte, Rußland wolle seine „strategischen Interessen“ in der Schwarzmeerregion sichern. Georgische Beamte, die davon überzeugt sind, daß Rußland die abchasischen Separatisten unterstützt, interpretierten dies als Beweis für die russische Nichtanerkennung der georgischen Unabhängigkeit.

Regierung erwägt Generalmobilmachung

Hochrangige georgische Politiker sagen, daß Schewardnadse nun um einen sofortigen Krisengipfel mit dem russischen Präsidenten Boris Jelzin gebeten hat, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Er wolle Jelzin auffordern, sich öffentlich von der Bombardierung Sukhumis zu distanzieren. In einer hochemotionalen Parlamentsdebatte, die am Mittwoch mit der Warnung vor einem „zweiten Afghanistan“ zu Ende ging, drohte der georgische Präsident mit einer Generalmobilmachung, wenn Rußland seine Truppen aus Abchasien und der südlichen Region Adscharien nicht abziehe. Wenn Jelzin den georgischen Forderungen nicht nachkommt, warnt Tscharviani, „würde das bedeuten, daß Rußland seine Militärmacht einsetzt, um die georgische Unabhängigkeit niederzuwerfen“.

Etwa 1.500 russische Elitesoldaten sollen in Abchasien stehen, direkt von Moskau aus geleitet unter Umgehung des neugeschaffenen „transkaukasischen“ Kommandos im russischen Militär. „Das läuft auf eine russische Annexion Abchasiens hinaus“, sagt Georgiens Verteidigungsminister Tengiz Kitovani.

Georgische Politiker glauben, daß Rußland seinen südlichen Nachbarn Georgien destabilisieren will, um besseren Zugang zur Schwarzmeerküste zu erhalten. „Der Zerfall der Sowjetunion hat dazu geführt, daß Rußland nur einen kleinen Teil der Schwarzmeerküste kontrolliert, während wir 305 Kilometer Küste haben“, sagt Kitovani. „Rußland eskaliert den Krieg, um auch unseren Anteil zu kontrollieren“. Zurab Lomashvili, ein Beamter im georgischen Außenministerium, der gegenwärtig an den Verhandlungen mit Moskau beteiligt ist, fügt hinzu: „Die Russen wollen die permanente Destabilisierung der Region. Sie wollen demonstrieren, daß sie die Schlüssel zur Region in der Hand halten. Sobald der Abchasien- Konflikt gelöst ist, werden sie in anderen Teilen Georgiens Probleme provozieren.“

Der Krieg in Abchasien begann im Sommer 1992, kurz nachdem eine Revolte gegen die georgische Regierung in Südossetien niedergeworfen worden war. Georgische Truppen bezogen im August Position in Abchasien, um die Eisenbahnlinie, die von Rußland über Georgien nach Armenien führt, gegen den Vormarsch der Separatisten zu verteidigen. Der Krieg kostet Georgien fünf Millionen Rubel täglich und hat die Wirtschaftsreformen zum Stillstand gebracht. In Tbilissi wachsen die Schlangen vor den Bäckereien, viele Familien können sich kein Heizmaterial mehr leisten, und Regierungsbeamte sitzen in dicken Pullovern und Mänteln in eisigen Büros. „Wenn das so weitergeht“, sagt Tscharkvani, „könnten die Menschen auf die Straße gehen und Schewardnadses Rücktritt fordern.“ Am vergangenen Wochenende fand eine Großdemonstration der Nationalisten in Tbilissi statt, um einen sofortigen Abbruch der Verhandlungen mit Moskau zu fordern. „Vor einem Monat“, meint dazu ein westlicher Diplomat, „wäre das undenkbar gewesen.“

Konflikte in allen Ecken des Landes

Aber auch wenn Schewardnadse und Jelzin zu einer Einigung finden, ist der Krieg nicht zu Ende. Im letzten September wurde eine Vereinbarung, die die beiden Präsidenten und der Abchasenführer Wladislaw Ardzinba getroffen hatten, sogleich im Blut ertränkt, als abchasische Truppen die Stadt Gagra angriffen und nach georgischen Angaben über tausend Georgier töteten.

Eine Einigung wird auch durch das wachsende antirussische Sentiment in Georgien erschwert. Die georgische Forderung, Rußland solle seine Soldaten auch aus der Region Adscharien, im Südwesten Georgiens an der Grenze zur Türkei, zurückziehen, ist auf angeblich russisch inspirierte antigeorgische Demonstrationen dort zurückzuführen. Georgische Politiker und westliche Diplomaten sind überdies der Meinung, daß Rußland Bestrebungen zur „Wiedervereinigung“ der von Armeniern besiedelten georgischen Region Akhajaize mit Armenien schürt.

„Wir verstehen die Russen“, sagt Nikoloz Rteveliashvili, Nato- Direktor im georgischen Außenministerium. „Sie eroberten den Kaukasus vor 200 Jahren und denken, er ist immer noch russisch. Es ist schwer, ihr Denken zu ändern.“

Die georgische Drohung mit einer Generalmobilmachung gilt jedoch eher als Signal an Jelzin, daß jetzt schnellstens eine Deeskalation vonnöten ist. „Die Generalmobilmachung wäre ein Zeichen, daß wir bereit sind, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen“, sagt Außenministerialbeamter Alexander Nanobashvili. „Wenn Schewardnadse tatsächlich zu diesem Mittel greift, heißt es: Wir haben keine Alternative. Aber ganz so weit sind wir noch nicht.“

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