: „Giftisch Zeuch in de Himmel“
Bürger und Bürgerinnen versammelten sich in der Kirche von Schwanheim/Neuer Unfall bei Hoechst wird wieder verharmlost ■ Aus Frankfurt Klaus-Peter Klingelschmitt
Im Gotteshaus war der Teufel los: Knapp 1.000 Ungläubige füllten am Mittwoch abend die evangelische Martinskirche im Frankfurter Stadtteil Schwanheim bis auf den letzten Stehplatz – und weitere 200 Menschen harrten draußen vor der Kirchentür aus. Der Magistrat der Stadt Frankfurt mit Oberbürgermeister Andreas von Schoeler an der Spitze hatte zum „Bürgergespräch“ geladen. Einziges Thema: Der Chemieunfall im Werk Griesheim der Hoechst AG am vergangenen Montag.
Als am späten Nachmittag die ersten in das zunächst als Veranstaltungsort ausgewiesene Gemeindehaus strömten, hatte es im Hauptwerk der Hoechst AG in Höchst erneut geknallt: Bei einem „nicht schwerwiegenden Störfall“ im Stammwerk, so ein Konzernsprecher, sei ein Kilogramm Chlordioxid freigesetzt worden. Die Werksfeuerwehr habe die Substanz noch auf dem Firmengelände „mit Wasser niedergeschlagen“. Menschen seien dabei nicht zu Schaden gekommen, zwar sei Chlor ein „sehr giftiges Halogen“, doch die Konzentration sei bei dem freigesetzten Chlordioxid „nicht sehr hoch“ gewesen.
„Wir glauben euch kein Wort mehr!“, schallte es in der Martinskirche dem Vorstandsmitglied der Hoechst AG, Mische entgegen. Vergeblich hatte er den „lieben Nachbarn“ versichert, „alles Menschenmögliche“ werde getan, um die Folgen des Unglücks so gründlich und so schnell wie möglich zu beseitigen. Eine Rentnerin zoppelte vor Mische an ihrer Bluse: „So gelb wie die, so sieht's bei mir daheim aus – gugge se nur rischtisch hin.“ Mit Hohngelächter quittierten die Empörten die Einlassungen des Vorständlers, daß bei nur kurzem Kontakt mit der Chemikalie o-Nitroanisol „nach menschlichem Ermessen“ keine Gefahr für die Gesundheit von Menschen und Tieren zu konstatieren sei. Schießlich waren sie stundenlang durch die auf Gehwegen, Straßen und Parkplätzen liegende braungelbe Masse gelaufen, hatten ihre Autos mit Schwamm und Wasser gereinigt, die Kinder in Schulen und Kindergärten geschickt. „Verbrecherisch“ sei die Informationspolitik des Konzerns gewesen, sagte ein Geschäftsmann aus Schwanheim. Und in der Kirche brandete Beifall auf.
Auf dem Podium vor dem Altar hatte zuvor Joschka Fischers Staatssekretär Rainer Baake (Die Grünen) den Verantwortlichen des Konzerns in Sachen Informationspolitik gleichfalls „schwerste Versäumnisse und Verstöße gegen gesetzliche Bestimmungen“ vorgeworfen. Anstatt – wie gesetzlich vorgeschrieben – umgehend das Gewerbeaufsichtsamt und die Untere Wasserbehörde zu alarmieren, sei lediglich ein Anruf bei der Polizei erfolgt, mit der Bitte, die Straße vor dem Werksgelände für den Verkehr zu sperren. „Zu spät und zu unpräzise“ sei auch die Frankfurter Berufsfeuerwehr von der Hoechst AG informiert worden, ergänzte Oberbürgermeister von Schoeler: „Frankfurt soll Chemiestandort bleiben – aber die Sicherheits- und die Informationspolitik muß sich ändern.“
Dafür, daß die Hoechst AG trotz einer toxikologischen Studie, in der auf die krebserregende Wirkung von o-Nitroanisol hingewiesen wurde, den Unfall zunächst als „Alltagsproblem“ (Umweltdezernent Tom Koenigs, Die Grünen) deklariert hatte, entschuldigte sich Vorstandsmitglied Mische. Noch am Montag hatte ein Hoechst- Sprecher ausgeführt, daß diese Studie der Werksleitung „nicht bekannt“ gewesen sei. Im hessischen Umweltministerium schlug Minister Joschka Fischer den Herren vom Vorstand das Papier dann am Mittwoch symbolisch um die Ohren: die Ergebnisse der Studie waren nämlich auf Briefpapier der Hoechst AG fixiert und lagen dem Konzern bereits seit Mitte Februar vor. Daß der Leiter des Hoechst- Werkes Griesheim, Rümmler, in der Martinskirche darauf hinwies, daß sich bei den Tierversuchen mit o-Nitroanisol erst bei sehr hohen Dosen dieser Chemikale bei den „Subjekten“ Karzinome herausgebildet hätten, trug dann auch nicht mehr zur Beruhigung der aufgebrachten Bevölkerung bei. Und auch die Ankündigung von Rümmler, daß die Hoechst AG rund 1.000 Quadratmeter Boden in Schwanheim, der mit 8 Gramm o-Nitroanisol per Quadratmeter verseucht ist, komplett gegen „frische Muttererde“ austauschen wird, wurde von vielen Bürger Innen nur als Hinweis auf die Gefährlichkeit der Chemikalie interpretiert: „Die vergiften uns doch schon seit Jahren“, meinte etwa eine Rentnerin, die von ihrem Häuschen am Schwanheimer Mainufer aus direkt auf das Werk Griesheim auf der anderen Mainseite blicken kann. Vor allem nachts würde dort „regelmäßisch Zeuch in de Himmel geblase. Jedesmal stinks anners – un keiner weiß, was die dort mache.“ Inzwischen haben sich schon knapp 100 SchwanheimerInnen nach dem Unfall vom Montag in ärztliche Behandlung begeben müssen: Augenbrennen, Unwohlsein bis zum Erbrechen, Schwindelgefühle. Nach den Angaben von Rümmer habe o-Nitroanisol „bei Sonnenschein“ eine Halbwertzeit von fünf Tagen. Die Chemikale bleibe am Boden haften und werde von Bakterien „abgebaut“. Seine Empfehlung: Keine Kinder auf verseuchten Wiesen spielen lassen, vor der Haustüre die Schuhe ausziehen – und keinen Salat und kein Gemüse aus Eigenanbau essen.
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