: Nachschlag
■ Gespenstergeschichten im „Kalligramm“
Der puristische Literaturfreund lehnt Lesungen im allgemeinen ab. Der Text sei Schrift, meint er, vorgelesen könne er nur verlieren. Das mag zwar den Buchstaben sehr gefallen, denjenigen jedoch, die im stillen nur lesen, entgeht einiges.
Im Kreuzberger Antiquariat „Kalligramm“, in dem der Berliner Literaturwissenschaftler Robert Stockhammer gegen Mitternacht Gespenstergeschichten vorlas, drängen sich die ZuhörerInnen themengerecht eng aneinander und blicken auf den kerzenerleuchteten Schreibtisch. Der ist stilvoll und sehr romantisch mit Tierschädeln bestückt und steht in der Ecke zwischen zwei imposanten Bücherregalen. Zwischen den Sätzen, die der Erzähler mit lustig bayerischem Klang spricht, mal ironisch, mal komisch gruselig, dann wieder recht ernst, weht ein wenig Verkehr und zuweilen die Stimme eines Betrunkenen herein: „Lalalala“.
Von weit her kommen die Worte; genauer gesagt aus dem seltsamen Niemandsland zwischen Aufklärung und Romantik. 1810 bis 1813 hatten Johann August Apel und Friedrich Laun die vier Bände der Gespenstergeschichtensammlung herausgegeben. Stockhammer war durch einen Zufallsfund dazu angeregt worden, eine neue Auswahl des vergessenen Buchs zusammenzustellen, deren Autoren als „Trivialromantiker“ galten. Durch regelmäßig stattfindende „Gespenstertees“ waren sie vor 200 Jahren zu ihrem selbstbewußt eklektizistischen Gespensterbuch angeregt worden. Friedrich August Schulze, der sich später den Künstlernamen „Friedrich Laun“ zulegte, galt dabei als fleißiger Vielschreiber, der Zeit seines Lebens kränkelnde Johann August Apel dagegen war romantisch gesinnt und beharrte auf der Unerklärlichkeit seltsamer Phänomene. Eine von J.A. August verfaßte Geschichte aus dem Gespensterbuch wiederum diente dem Libretto von Webers „Freischütz“ als Vorlage, aber berühmt wurden die Geschichten vor allem dadurch, daß sie Lord Byron und seine Freunde im Juni 1816 zu einem legendären Schreibwettbewerb veranlaßten, in dessen Folge dann Mary Shelley's „Frankenstein“-Roman entstand.
Seltsam fremd kommen die verschiedenen Geister und gehen, nicht ohne den einen oder anderen mitgenommen zu haben. Anders als die literarisch vielleicht wertvolleren Geistergeschichten von E.T.A. Hoffmann haben die Erzählungen aus dem Gespensterbuch durchaus selbstbewußte Trash-Qualitäten. Als Gespenst schmückt sich der Tod, um nicht gar so furchtbar zu sein. Zwei Lieblingssätze aus Apels „Freischütz“-Erzählung bleiben zurück: „Die Nacht, sagt das Sprichwort, ist keines Menschen Freund, aber fasse nur Mut, wer in seinem Beruf ist und auf guten Wegen geht, dem schadet auch der Nachtspuk nicht“, und: „Alle Wolken waren von ihrer Stirn verschwunden und nur ein glänzender Sommerregen der Freude zitterte in ihren Augen.“ Detlef Kuhlbrodt
Gespensterbuch, hrsg. von J.A. Apel und Friedrich Laun; ausgewählt von Robert Stockhammer; Insel-Taschenbuch, 16 DM.
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