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Fäkale Orgie

Castorfs Inszenierung von „Uhrwerk Orange“: Eine Blutwurst von über zwei Stunden Länge  ■ Von Thierry Chervel

Das einzig verbindende Element dieses Stückwerks von Inszenierung ist ein Gitarrist mit schwarzer Schlaghose und bis zum Nabel offenem Hemd, der spielen kann wie Jimi Hendrix. Steve Binetti, im Osten offenbar eine Legende, kommentiert die Handlung mit seinen Riffs und Feedbacks. Einmal singt er „Hey Joe“ in russisch. Was hat nun der subjektive Leidens- und Jubelgestus des Blues zu tun mit dem unsentimentalen Spaß an der Gewalt gegen Schwächere, von der „Uhrwerk Orange“ berichtet? Nichts. Das paßt einfach nicht zusammen. Zuerst erzählt Alex seine Geschichte selbst, und er hätte sie wohl eher mit einem Scherzo von Ludwig van unterlegt. Tekkno hätte es vielleicht auch getan.

Anthony Burgess' Roman „Uhrwerk Orange“ von 1962 erzählt in leichter und realistischer Science- fiction-Zuspitzung von randständigen Jugendlichen, die ihre Randständigkeit mit einem „malenki bißchen vom Ultrabrutalen“ gegen noch Randständigere abreagieren: Frauen, Penner, gern auch Intellektuelle. Außerdem handelt der Roman von den vielleicht noch fieseren Therapiemaßnahmen, mit denen der Staat Alex zum rückgratlosen Anpasser umerzieht.

Frank Castorfs Akteure stehen zunächst am vorderen Bühnenrand mit dem Rücken zum hochgefahrenen Bühnenboden, rezitieren ihren Text mehr als daß sie ihn spielen und bespucken die Zuschauer der vorderen Reihen mit Milch. Später wird der Bühnenboden herabgesenkt, die Bühne zum gähnenden Schlund. Alex' Geschichte wird bei all dem Umstand nur oberflächlich nachvollzogen. Es mangelt der Inszenierung sosehr an bloßer Textverständlichkeit und Interesse für ihre Hauptfigur, daß Zuschauer, die Burgess' Buch zufällig nicht gerade gelesen haben, kaum etwas kapieren werden. Auch im Buch muß man den komplizierten Slang der Jugendlichen erst mal lernen.

Castorf verliert Alex schnell aus dem Blick. Der Regisseur hängt zu sehr an seinen eigenen Bildern, als daß er sich auf eine Sache konzentrieren könnte. Castorf verkoppelt Alex' Geschichte mit Dialogen aus Protokollen stalinistischer Schauprozesse, in denen sich der Angeklagte im Sinne der vollkommen absurden Anklage schuldig bekennt, und einem Propagandafilm der Nazis über die Idylle der Juden im Musterlager Theresienstadt. Die Opfer in diesen beiden Dokumenten haben mit Alex gemein, daß sie bei den gegen sie gerichteten Repressionsmaßnahmen kollaborieren. Ist Alex darum Jude oder Dissident?

Alex ist ein Täter. In die Fänge der Staatsgewalt gerät er, weil er Frauen vergewaltigt und Männer so gründlich zusammengeschlagen hat, daß sie für den Rest ihres Lebens gelähmt bleiben. Der Staat reagiert, indem er versucht, Alex seinerseits zuzurichten. Zum Teil hat das etwas Rat- und Hilfloses. Es gelingt auch nicht ganz: Am Schluß regt sich wieder Alex' Lust. Burgess' Roman ist eine Reflexion über die kapitalistische Gesellschaft als Gewaltzusammenhang, auch darüber, daß Gewalt nicht völlig zu unterbinden ist — es sei denn um den Preis der Freheit —, sondern höchstens zu bändigen wie in den Kraftlinien von Kunstwerken, wie zum Beispiel Beethovens Neunter. Aber auch darin, so Burgess, steckt Gewalt und Lust an der Gewalt. Die Gewalt ist bei Burgess individuell anarchistisch und staatlich verfügt, aber keineswegs zentral gebündelt und absolut effizient wie im Stalinismus oder Faschismus.

Diesen Unterschied verwischt Castorf, indem er Alex' Geschichte in eine falsche historische Perspektive stellt. Der eigentlichen politischen Aktualität des Stoffs weicht er aus — marodierende Jungs aus den Vorstädten und die Frage, wie auf sie zu reagieren ist: Dieses Problem stellte sich doch neulich erst wieder. Statt dessen spricht aus seiner Inszenierung die eine, nun schon bis zum Überdruß bekannte Ossi-Sehnsucht, die im Kapitalismus bloß einen weiteren Totalitarismus erblicken will. Das ist wahrlich ein Denken mit dem Arsch: „Alles eine Scheiße“, sagt er, um es sich wie eh und je bequem darin zu machen. Nur nicht aufstehen. Hundsgemein ist, daß die Bilder der aus Todesangst im Nazifilm mitspielenden Juden als dramaturgisches Versatzstück in diesem politischen Statement dienen.

Es ist symptomatisch, daß die Inszenierung, nachdem sie sich langatmig von einer Rezitation zur nächsten Gesangseinlage, von einer symbolischen Aktion zur nächsten Metapher gehangelt hat, in einer der in deutschen Theatern zur Zeit hoch modischen Fäkalorgien kulminiert. Milch wird gespuckt, Blut aus Eimern ausgeschüttet, Benzin vergossen, Mehl geworfen, und zwei Polizisten, wer sonst, holen sich die Scheiße aus dem Hosenboden. Dann müssen die Schauspieler, die ihr Bestes gaben, nur leider vergebens, drauf tanzen. Schlingensieff, die Kreuzberger Autonomen, und jetzt Castorf: die Gesamtberliner Restavantgarden hauen auf die Kacke. Deutlicher könnten sie ihr allgemeines Einverstandensein nicht demonstrieren. Mutti wird schon saubermachen. Warnung an Theaterbesucher: Diese Inszenierung dauert zwei Stunden und zwanzig Minuten ohne Pause.

„Uhrwerk Orange“, nach dem gleichnamigen Roman für die Bühne bearbeitet von Anthony Burgess, übersetzt von Bruno Max, Regie: Frank Castorf, Bühne: Hartmut Meyer, Musik: Steve Binetti, mit Herbert Fritsch, Peter René Lüdicke u.a., Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin. Nächste Vorstellung: 7.3.

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