piwik no script img

Im Obersten Sowjet haben die eigenen Pfründe oberste Priorität

■ Die Pläne für eine präsidiale Übergangsdiktatur in Rußland liegen schon in Jelzins Schublade

Daß die Krise der Macht in Rußland angesichts rostender Fabriken und einer Preissteigerung von bis zu 10 Prozent wöchentlich „viel Lärm um nichts“ ist, haben in den letzten Wochen manche Kommentatoren suggeriert. Jelzins Ankündigung, daß auch er nicht mehr weiter bereit ist, sich in allen Punkten an die bisherige Verfassung zu halten, macht dagegen jetzt den Ernst der Lage deutlich: die Spekulationen über eine präsidiale Übergangsdiktatur im Lande sind offenbar schon in das Stadium der konkreten Planung übergegangen.

Ob nun die staatlichen Machtstrukturen funktionieren oder nicht – das ist der kleine Unterschied, von dem es abhängt, ob es im Lande funkt.

Und während der VII. Kongreß der Volksdeputierten vorbereitet wird, kann man sicher sein, daß in den Hinterzimmern des Präsidenten und des Parlamentssprechers die Rubelscheinchen für die regionalen Chefs und Wirtschaftsbosse in Planspielen zuhauf über die grünen Tische geschoben werden und die Inflation – wer auch immer siegt – noch einmal einen kräftigen Schubs nach vorn erhält.

Der Mehrheit im Obersten Sowjet geht es dabei um die Erhaltung ihrer Pfründe. Zur Erzielung dieses Zweckes sind bisher zwei Schlachtpläne an die Öffentlichkeit gedrungen.

Zuerst der weichere: Der Versuch zu einem Verfassungs-Kompromiß von Ende letzten Jahres wird von der Mehrheit der Abgeordneten für verfassungswidrig erklärt, weil er die Konstitution betraf, aber nicht mit der in solchen Fällen vorgeschriebenen absoluten Mehrheit gebilligt wurde. Indem es sich auf die „Subjekte“ der Föderation stützt, die Meinungsäußerung der Häupter der autonomen Republiken, sperrt das Parlament dem Präsidenten die Mittel zur Durchführung des geplanten Referendums. Im Gegensatz zur bisherigen Verfassung, die eine solche Möglichkeit nicht vorsieht, werden vorzeitige Neuwahlen des Präsidenten und des Obersten Sowjet angesetzt. Dem soll die Verabschiedung eines neuen Wahlgesetzes vorausgehen. Das Verfassungsgericht soll durch neu zu wählende Richter personell erweitert werden.

Die härtere Variante beinhaltet nicht nur den Sturz des Präsidenten, sondern auch die Abwahl des bisherigen Parlamentssprechers von seinem Posten. Chasbulatow ist durch seinen unverschämten Ton und seine Felix-Krullsche Wandelbarkeit auch für viele rot- braune Abgeordnete zu einem untragbaren Risiko geworden. Nach der Wahl eines neuen Vorsitzenden soll dann ein Katalog von Maßnahmen zur sozialökonomischen Stabilisierung des Landes verabschiedet werden. Dies bedeutet im Endeffekt die Verhängung eines Ausnahmeregimes in der Wirtschaft.

Jelzin könnte einer solchen Entwicklung zuvorkommen, indem er beansprucht, eine delegierte Demokratie im Lande sachwalterisch zu vertreten. Er könnte sich bei einer Auflösung des Kongresses der Volksdeputierten auf seine Wahl durch das Volk und auf die innere Widersprüchlichkeit der gegenwärtigen Konstitution stützen. Da auch baldige Wahlen der gegenwärtigen Verfassung zufolge nicht möglich sind (siehe oben), wäre wohl früher und später die Abhaltung eines Referendums mit nachfolgender konstituierender Versammlung unvermeidlich – falls der Präsident die Ansprüche, mit denen er einst antrat, nicht vollends desavouieren will.

Auf welche Machtfaktoren sich der Präsident dabei stützen könnte, ist allerdings vorerst nicht ersichtlich. Seine Unterstützung durch das Militär scheint äußerst fraglich.

Letztlich könnte sich eine Situation ähnlich der im August 1991 bilden. So jedenfalls unkte am Sonntag der Moderator Jewgeni Kisseljow in der populären politischen TV-Sendung „Itogi“, „daß wieder Kräfte va banque spielen, die eine Übereinkunft nicht nötig haben und den Kompromiß nicht wollen“. Er meinte dabei nicht die Anhänger des rechtspatriotischen Volkstribunen Viktor Ampilow und auch nicht die Mitglieder der parlamentarischen Opposition, sondern „Leute, die wir noch nicht kennen und die in den Korridoren der Macht selbst sitzen“. Vorläufig wartet die Russische Föderation noch auf Godot.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen