: Jelzin warnt vor der "Allmacht der Räte"
■ Der Konflikt zwischen Boris Jelzin und Parlamentspräsident Chasbulatow geht seinem Höhepunkt entgegen
Jelzin warnt vor der „Allmacht der Räte“
Am Wochenende kam Boris Jelzin aus seiner Datscha bei Moskau hervor, wohin er sich im letzten Februardrittel zu einen vielumrätselten „Urlaub“ zurückgezogen hatte. Nun demonstrierte er der Öffentlichkeit gleich zwei in dieser Inkubationsphase ausgebrütete Schachzüge: Auf einer Versammlung der „Bürger-Union“ – einem Verband liberaler bis konservativer Parteien und Organisationen – ließ der russische Präsident am Sonntag durchblicken, daß er künftig nicht mehr bereit ist, alle seine Schritte an der geltenden Verfassung auszurichten. Gleichzeitig wandte er sich an den Obersten Sowjet und an den Präsidenten des Verfassungsgerichtes, Walerij Sorkin. Das Parlament bat er, vor weiteren Beschlüssen zur Verfassung den in Vorbereitung befindlichen Bericht des Gerichtes zur Situation der Rechtsstaatlichkeit im Lande abzuwarten. An Sorkin wandte er sich mit der Bitte um ein Gutachten zu der Frage, ob die Konstitutionskrise, unter der Rußland seit Monaten stöhnt, nicht „in der Beschaffenheit der Konstitution selbst begründet“ sei. Jelzin suggeriert damit, daß sich die gegenwärtige russische Verfassung selber feind ist.
Unter Zeitdruck parierte Jelzin damit die andauernde Geschäftigkeit seines politischen Hauptgegners, des Parlamentspräsidenten Ruslan Chasbulatow. Dieser hat bereits alle Fäden im Obersten Sowjet gezogen, damit dessen Abgeordnete für Mitte März den bisher verfassunggebenden Kongreß der Volksdeputierten einberufen – eine durch eine ganze Anzahl von Ex-KPdSU-Bossen personell erweiterte Ausgabe des regulären Parlamentes.
Chasbulatow hat mit seinen Zielen nicht hinter dem Berg gehalten: Der administrative Apparat des Präsidenten soll so gut wie beseitigt werden, die Regierung künftig ausschließlich dem Parlament rechenschaftspflichtig sein. Dem Präsidenten kommt in diesem Szenarium „ungefähr die Rolle der Königin von England“ zu, wie es einer von Jelzins Beratern dieser Tage ausdrückte.
„Es wäre naiv, so zu tun, als ob nichts passiert wäre“, rief Jelzin angesichts der Zuspitzung der Ereignisse: „Ich habe meinen Eid nicht auf eine solche Konstitution geschworen.“ Der Präsident sprach sich für eine unerschütterliche Beachtung des Prinzips der Gewaltenteilung aus. Die einzige Alternative bestehe darin, die Allmacht der Sowjets zu verewigen, die in der UdSSR Exekutive und Legislative in einer Hand vereinigten. „Wenn wir zu einer Gewaltenteilung nicht bereit sind, werden wir als Resultat entweder Anarchie oder Diktatur bekommen. Und beides wird Rußland ruinieren.“
Jelzin erinnerte daran, daß man auf dem VII. Kongreß der Volksdeputierten Ende vorigen Jahres einen Kompromiß über eine Begrenzung der Funktionen des Präsidenten und der Regierung einerseits und des Parlamentes andererseits gefunden hatte. Dennoch sei der Oberste Sowjet unmittelbar danach auf strikten Kurs gegen die Gewaltenteilung gegangen: „Faktisch wirkt in Rußland neben der verfassungsmäßigen Regierung noch eine zweite unter der Ägide des Obersten Sowjet.“
Wie ein Menetekel malte Jelzin die Gefahr einer Konterrevolution an die Wand – Aufrufe zum bewaffneten Aufstand und Bürgerkrieg, so der Präsident, mehrten sich allenthalben. Doch auch Trost hatte er für seine Zuhörer übrig: Die heutige Wirtschaftskrise bezeichne den „Gipfelpunkt der Anspannung aller Kräfte, bevor die Gesundung beginnt“. Noch ein letztes Mal machte Jelzin ein friedliches Angebot an seine politischen Gegner: „Ich begrüße alle Arten von Tischen – ob sie nun rund sind oder quadratisch – und auch alle sonstigen Formen einer Übereinkunft.“ Ausdrücklich behielt er sich aber vor, das für den 12. April geplante landesweite Referendum durchzuführen: „Wenn die Regierenden und die Politiker nicht zur Vernuft zu bringen sind, müssen eben die Bürger ihr Wort sprechen.“
Der Oberste Sowjet und entsprechend ihr Kongreß der Volksdeputierten wurden noch in der Ära Gorbatschow gewählt. Sie spiegeln die alten UdSSR-Machtstrukturen wider. Seit anderthalb Jahren haben sie unzählige Reformprojekte blockiert, unter anderem das Gesetz über Privateigentum an Grund und Boden. Bereits der VII. Kongreß der Volksdeputierten hatte Ende letzten Jahres den Versuch unternommen, sich die Exekutive ganz und gar unterzuordnen. Mit Leichtigkeit kann dieses Gremium die notwendige Zweidrittelmehrheit finden, um die Verfassung der Russischen Föderation nach seinen Bedürfnissen zurechtzuschneidern. Durch Vermittlung von Verfassungsrichter Sorkin und indem er seinen Ministerpräsidenten Gaidar opferte, konnte Jelzin damals eine Machtursupation verhindern.
Derweilen vertiefte sich die Verfassungskrise, und der Aufwand zu ihrer Beilegung wucherte ins Maßlose. Eine Schlichtungskommission wurde gegründet, konnte aber nicht viel ausrichten. Der Verfassungsrichter Sorkin zog sich frustriert zurück, nachdem er in der Öffentlichkeit vielfach für seine Einmischung in die Politik kritisiert worden war. Parlamentspräsident Chasbulatow erklärte das Referendum Mitte Februar in Nowosibirsk für „gefährlich“.
Präsident Jelzin wollte sich zu einem Referendums-Moratorium bereit finden, falls sich das Parlamant bereit erkläre, die finanziellen Kompetenzen aufzugeben, mit denen es der Regierung ständig ins Handwerk pfuscht.
Ganz und gar nicht bereit, auf eine solche Reduktion der eigenen Macht einzugehen, hat die russische Legislative in letzter Zeit sogar Beschlüsse gefaßt, die eine Einmischung in exekutive Vollmachten bedeuten. Sie behält sich sogar das Recht vor, Beschlüsse der Ministerräte der einzelnen Republiken der Russischen Föderation zu ändern. Die Furcht, daß ein Referendum die Russische Föderation spalten könne, ist in letzter Zeit in allen politischen Lagern laut geworden. Dem ist entgegenzuhalten, daß nur eine neue Konstitution den Autonomien jene Vollmachten sichern könnte, die zum Abschluß eines neuen Unionsvertrages unentbehrlich sind.
Präsident Jelzin wird auf dem bevorstehenden Kongreß der Volksdeputierten einen Fragenkatalog für das Referendum vorlegen. Die erste Frage wird wahrscheinlich darauf abzielen, den „Kongreß der Volksdeputierten“ als höchstes gesetzgebendes Organ zugunsten eines Zweikammernparlamentes abzuschaffen. Die zweite Frage dreht sich um die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung, und mit der dritten soll sich die Bevölkerung zum Privateigentum an Grund und Boden äußern. Damit das Referendum gültig wird, müssen 50 Prozent der Wähler teilnehmen. Und wenn es nach den Moskauern ginge – zumindest 40 Prozent von ihnen wünschen sich nichts sehnlicher als eine eigene Parzelle.
Ohne Zweifel hat sich das Gleichgewicht der politischen Kräfte in Rußland verschoben. Jelzin erklärte, daß seine Konsultationen mit der „Bürger-Union“, wie auch mit anderen politischen Kräften, regelmäßigen Charakter annehmen sollten, zwischen ihm und der Bürger-Union gebe es keine unüberwindlichen Differenzen.
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