: Im Osten versagt der Markt
Marktwirtschaft pur oder Erhalt der industriellen Kerne – beide Konzepte haben ihre Haken/ Einäugige Sicht der „Kieler Schule“ ■ Von Alexander Spermann
„Die Frage, was ein industrieller Kern in Ostdeutschland ist, muß letzten Endes auf den Märkten entschieden werden.“ So lautet das marktwirtschaftliche Credo der Kieler Ökonomen des „Instituts für Weltwirtschaft“. Und Institutsleiter Horst Siebert, Nachfolger des legendären Großmeisters der Marktwirtschaft, Herbert Giersch, wird noch deutlicher: „Alle bis Ende des Jahres nicht privatisierten Treuhandbetriebe sind grundsätzlich zu schließen.“
Danach sieht es zur Zeit jedoch gar nicht aus. Die Treuhand betreibt inzwischen offensiv die Erhaltung von Unternehmen, weil sonst traditionelle Industriestandorte zu veröden drohen. Selbst der Kanzler, der sein Amt vor zehn Jahren mit Hymnen auf die Marktwirtschaft antrat, scheint sich jetzt den Problemen der Deindustrialisierung zu stellen. Sollen die Ostdeutschen ein Volk von Pommes- Verkäufern mit Schmalspurverdiensten werden? Sollen sie nicht auch die Friteusen und Verkaufsstände produzieren?
Daß solche Fragen heute auf den Nägeln brennen, ist freilich größtenteils hausgemacht. So kritisiert Siebert, daß die rund 3,5 Millionen seit 1989 weggefallenen Arbeitsplätze zu einem erheblichen Teil Ergebnis einer politisch gewollten „Hochlohn-High-Tech- Strategie“ seien. Eine schnelle Lohnangleichung an das Westniveau paßte beiden Tarifparteien gut ins Konzept: die Gewerkschaften konnten diese Strategie ihren arbeitsplatzbesitzenden Mitgliedern als Erfolg verkaufen; die westdeutschen Arbeitgebervertreter schafften sich damit eine Billiglohnkonkurrenz vom Hals und zusätzliche Kaufkraft für westdeutsche Produkte heran.
Die Bundesregierung setzte während dessen auf massive Kapitalsubventionen – mit der Folge, daß einige hochmoderne, international wettbewerbsfähige Anlagen mit wenig Arbeitsplätzen errichtet wurden. Hinzu kam der unvorhersehbare Zusammenbruch des Osthandels. Hohe Kosten und fehlende Nachfrage rissen große Teile der ostdeutschen Wirtschaft zu Boden; ein Ende dieser Entwicklung ist noch nicht absehbar.
Wenn die Deindustrialisierung verschiedener Regionen Ostdeutschlands gestoppt werden soll, müssen über Jahre hinweg Milliardensubventionen aus der Staatskasse in die Chemie-, Stahl-, Maschinenbau- und Werftstandorte gepumpt werden – ein nicht nur finanziell, sondern zum Teil auch ökologisch bedenkliches Unterfangen. Hier schreiten nun die Mahner von der Ostsee ein. Zu Recht prangern sie die Subventionen an, für die aus ökonomischer Sicht wenig spricht. Wer – außer den Profiteuren – hat heute noch Verständnis für die massive Subventionierung der Landwirtschaft angesichts von Weinseen und Butterbergen, horrender Lagerkosten und Lebensmittelvernichtungsaktionen?
Weit weniger Gedanken machen sich die Marktwirtschaftler über die Folgen dauerhafter Massenarbeitslosigkeit. Die einäugigen Kieler betrachten vor allem den siamesischen Zwilling „Allokation“, das heißt, die wirtschaftliche Verwendung der Ressourcen. Der andere Zwilling „Verteilung“ führt nur ein Schattendasein. Chefökonom Siebert lehnt Strukturpolitik strikt ab, die Arbeitslosen werden ins soziale Netz geschickt.
Bei den regierungsoffiziellen Befürwortern der Strukturerhaltung überwiegt dagegen Scheinheiligkeit. Wer industrielle Kerne erhalten und Arbeitsplätze sichern will, muß gleichzeitig die Frage beantworten, wer das bezahlen soll. Die Nutznießer wären die verbliebenen Arbeiter in noch nicht privatisierten Treuhandbetrieben, etwa die knapp 9.000 von ursprünglich 27.000 Beschäftigten des Chemiegiganten Leuna AG. Ob diese Betriebe am Markt jedoch überleben können, ohne über Jahrzehnte am staatlichen Tropf zu hängen, ist völlig offen. Nach den Erfahrungen mit Agrar- und Kohlesubventionen wird ihre Erhaltung sehr teuer. Und die derzeitigen Regierungspläne machen deutlich, daß vor allem sozial Schwache und zukünftige Generationen für die Kosten der Industriepolitik aufkommen müssen.
Auch wenn vieles gegen eine Erhaltung industrieller Kerne in Ostdeutschland spricht, müssen aber alle Register einer aktiven Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gezogen werden, um die gesellschaftlichen Kosten von Dauerarbeitslosigkeit und jahrelangem Sozialhilfebezug zu verringern. Das würde etwa bedeuten, nicht bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu sparen, sondern Stellen im ökologischen und sozialen Bereich schaffen – dort, wo der Markt versagt, weil sich nichts verdienen läßt. Nicht nur Umschulung und Weiterbildung für Arbeitslose müßten weiterhin gefördert, sondern auch eine Qualifizierungsoffensive für Sozialhilfebezieher gestartet werden. Denn den „Marktverlierern“ lediglich das Existenzminimum auszuzahlen und sie ins ausgeleierte soziale Netz plumpsen zu lassen, wie es den nicht nur den Kieler Ökonomen vorschwebt, ist ziemlich kurzsichtig. Aus dem Netz ein soziales Sprungbrett zu basteln, Anreize und Chancen zu bieten, von der „Staatsknete“ unabhängig zu werden, ist zwar kurzfristig teuer. Langfristig zahlt sich aktive Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik im Gegensatz zu Industrie- und Strukturpolitik jedoch aus – vor allem bei gerechter Finanzierung.
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