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„Es gab nur eine Regel: Aufnehmen!“

Zur Filmreihe „Timebreak“: Ein Interview mit Abram Chawtschin, Stalins Leibkameramann  ■ Von Oksana Bulgakowa

Wer nach Dokumentaraufnahmen von Stalin sucht, findet ihn nur auf Staatsbegräbnissen und Paraden. Stalin ließ sich bloß bei offiziellen Anlässen filmen – an Festtagen auf dem Mausoleum – am 1. Mai und am 7. November – immer aus der Entfernung. Kein Alltag, kein Privatbild. Nach dem Krieg bat der Filmminister Bolschakow um die Erlaubnis, Stalin in dessen Privatsphäre filmen zu dürfen, doch der Brief blieb ohne Antwort.

Es gab auch eine besondere, vom KGB durchgecheckte Gruppe von Kameraleuten, die Stalin ein Leben lang filmten. Ein solcher Leibkameramann war Abram Chawtschin, heute Pensionär in Moskau.

taz: Warum gibt es keine Privataufnahmen von Stalin?

Abram Chawtschin: Stalin mochte nicht gefilmt werden. Doch wenn er meinte, daß es wichtig war, gab er den Befehl dazu. So wurden drei Reden von ihm – auf dem 8. Kongreß der Sowjets über die neue Verfassung, 1937 zu Lenins Todestag und am 7. November 1941 auf dem Roten Platz – von uns aufgenommen. Da wir damals zu der Rede auf dem Roten Platz zu spät kamen (wir wußten nicht, daß an diesem Tag die Parade stattfinden würde), mußte sie vor der Kamera wiederholt werden. Im Kreml wurde eine kleine Dekoration mit der Mausoleumswand aufgebaut, und Stalin sprach die Rede sogar zweimal nach, da bei der ersten Aufnahme der Ton ausfiel.

Gab es feststehende Regeln, wie Stalin aufzunehmen war?

Es gab nur eine Regel: Aufnehmen. Weil es immer so kompliziert und der Zugang so begrenzt war. Das Wichtigste war, daß wir wenig Lärm und keine Hektik machten. Es war immerhin alte Filmtechnik. Alles sollte ruhig verlaufen.

Wie lebte man in diesem Streß? Es waren alte Kohlestiftlampen, die brennenden Stifte konnten herausfallen, und das konnte als Attentat gewertet werden, oder: die Kamera konnte stehenbleiben...

Manchmal war ich naßgeschwitzt vor Angst.

Wie stand Stalin vor der Kamera, als Sie seine Reden drehten? Bemerkte er die Kamera, hatte er vor ihr Angst, wie reagierte er darauf?

Er reagierte auf die Kamera überhaupt nicht. Es war doch eine Tonfilmkamera. Sie machte keinen großen Lärm. Deshalb reagierte er nicht darauf. Er war ein hervorragender Redner. Er schrie nicht, klopfte nicht wie Chruschtschow aufs Rednerpult, tobte nicht wie Hitler, er sprach ruhig, leise, aber unwahrscheinlich sicher. Er las nie ab, niemals, auch wenn er lange Rechenschaftsberichte zu halten hatte. Er hatte ein Manuskript dabei, warf es aufs Pult, manchmal blätterte er darin, aber abgelesen hat er nie. Er sprach in einem schulmeisterlichen Ton, wie ein Lehrer vor seiner Klasse. Stalin sorgte für einen sehr eigenartigen Effekt: Wenn im Arbeitszimmer Menschen versammelt waren – Woroschilow, Molotow, Bulgakin, Chruschtschow, Mikojan –, schenkte niemand ihnen Aufmerksamkeit. Doch als Stalin erschien, knisterte es. Unerklärlich, aber so war es. Weil er einen ungewöhnlichen Eindruck machte.

Und was meinen Sie, hat die Kamera das eingefangen oder nicht?

Ja, zweifellos. Ich weiß nicht, ob man so etwas über ihn sagen kann, aber er war sehr fotogen.

Und wie wirkte Gelowani, der Stalin-Darsteller in den Spielfilmen jener Zeit, im Vergleich zum echten Stalin?

Gelowani, das war Operette. Er vermochte nicht einmal andeutungsweise jenen Hauch der Gefahr, die von Stalin ausging, wiederzugeben. Stalin trat damals selten auf, nicht wie Gorbatschow. Wenn Sie heute den Fernseher anschalten, egal wann, sehen sie immer wieder Gorbatschow. Man hat den Eindruck, daß er beim Fernsehen angestellt ist. Damals war das nicht so. Ein Auftritt Stalins war immer epochal: Wenn er sich zeigte, wußte jeder, daß das in den nächsten zwei bis drei Jahren diskutiert wird – bis zum nächsten Mal. Es war eben rar.

Gab es einen Kontakt zwischen Ihnen während der Aufnahmen?

Davon kann keine Rede sein, doch einige Male kam ich mit ihm ins Gespräch. Wir machten zwei lange Filme, einen über die Konferenz in Jalta, den zweiten über die Potsdamer Konferenz. In solchen Filmen wurde meistens die Ankunft der Staatsoberhäupter gezeigt – Roosevelt, Churchill, Stalin. Roosevelt und Churchill konnten wir hervorragend drehen, niemand hat uns daran gehindert. Stalin kam mit dem Zug, wir wurden nicht auf den Bahnhof gelassen, und so erschien er im Film wie vom Himmel gefallen. Deshalb gab mir Gerassimow die Anweisung, ihm während einer Pause aufzulauern. Da die Leibwache mich persönlich kannte, bekam ich die Erlaubnis, mich im Gebüsch zu verstecken. In dem kleinen Innenhof gab es ein Gebüsch und Tonnen mit Lorbeerbäumen darin. Dahinter habe ich mich also versteckt. Die Wache sagte zu mir: „Du darfst auf keinen Fall entdeckt werden, sonst kriegen wir Ärger.“ Ich wartete vielleicht dreißig Minuten, plötzlich geht die Tür auf, auf den Hof treten General Kusmitschow von der Leibwache und Stalin. Er geht auf einen Lorbeerbaum zu, all das ist gedreht, die ganze Kassette, vom Einschalten bis zum Ausschalten, ist in dem Film enthalten. Er tritt also an einen Baum heran, pflückt ein Blatt ab, zerdrückt es zwischen den Fingern und sagt: „... die haben hier aber einen guten Lorbeer, woher nur?!“ Und in diesem Moment muß ich meine Kamera aufziehen, sie war nicht elektrisch, sondern hatte eine Feder. Als er das Geräusch hörte, kam er auf mich zu und fragte: „Sitzen Sie schon lange hier? Was ist passiert?“ Ich erzähle ihm, daß wir seine Ankunft nicht drehen konnten, antworte auf seine Fragen und filme weiter. Später machte die Wache einen Skandal, doch da kam Kusmitschow zwischen und sagte, alles sei in Ordnung. „Sie haben sich wohl in die Hose gemacht?“ fragte er mich, „beruhigen Sie sich doch, Stalin lacht schon wieder.“

Einmal erkannte er mich. Das war im Georgi-Saal im Kreml, ein Fototermin bei der 18. Parteikonferenz, gleich nach dem Krieg. Ich stand mit der Kamera an der Wand, mein Chef kam auf mich zu: „Warum tun Sie nichts, Genosse Stalin ist da!“ Ich nahm die Kamera, ging hin und stellte mich vor die Fotografen. Stalin schaute mich an und fragte: „Wer sind Sie?“ – „Ich bin der Kameramann.“ Darauf Stalin: „Ich bin zwar nicht besonders gebildet, doch selbst ich weiß, daß Film eine Kunst der Bewegung ist – wir sitzen hier wie Idioten und Sie drehen das, wozu nur?“ Er stand auf und ging.

Konnte den Kameraleuten, die ihn drehten, etwas passieren?

Den Kameramännern, die ihn drehten, passierte nichts.

Juri Karawkin, damals Dramaturg im Dokumentarfilmstudio, beantwortete dieselbe Frage so: „Wer wurde unter Stalin eigentlich nicht verhaftet? Straßenfeger und die Ballerinen des Bolschoi-Theaters. Natürlich auch das Orchester, sonst wäre niemand mehr da gewesen, um zu spielen, und Stalin ging sehr oft ins Bolschoi. Auch die Filmleute wurden so ziemlich in Ruhe gelassen. Nur in den seltensten Fällen, die dann nicht wie Metastasen auswucherten. Das war irgendwie erstaunlich, und sie fühlten sich geschützt. Die Kameraleute, die die bedeutenden Staatsereignisse drehten, meinten sowieso, die sowjetische Gesellschaft könne ohne sie nicht existieren.“

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