: Wider die pädagogische Selbstüberschätzung
■ betr.: "Wir müssen an Herz und Bauch ran", "Die Schule versagt bei uns zur Zeit", taz vom 27.1.93
betr.: „Wir müssen an Herz und Bauch ran“, „Die Schule versagt bei uns zur Zeit“ taz vom 27.1.93
„Wachsende Gewalt an den Schulen“, so und ähnlich lauten derzeit die Schlagzeilen. Der hektische Aktionismus, mit dem hier ein „neues“ Tätigkeitsfeld entdeckt wird, stimmt nachdenklich. Auch die Art und Weise, wie staatliche Instanzen auf zunehmende Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz (gegen Nichtdeutsche, Linke, Lesben, Schwule, „Behinderte“ etc.) reagiert haben – bzw. wie sie, siehe Rostock, gar Absprachen mit Neofaschisten trafen – um dann, als sich die Brandbomben schließlich exporthemmend bemerkbar machten, mit ein paar publicityträchtigen (doch unwirksamen, siehe Bernd Sieglers Berichte in der taz) Verboten zur Stelle zu sein, ist nicht gerade vertrauenerweckend. Entsprechend sensibilisiert sollten wir uns jene anschauen, die da nach Jahren der Ignoranz auf einmal pädagogische Gegenmittel gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit fordern – zumal das, worum es eigentlich gehen sollte, dabei regelmäßig aus dem Blickfeld gerät: Wie Erziehung und Schule funktionieren und wirken, welches ihre Rolle in der Gesellschaft ist, sollten meines Erachtens die zentralen Fragen sein. Dazu ein paar Anregungen, Thesen und Überlegungen:
–Wie sehr die faschistische Kontinuität bis heute kaum gebrochen scheint, wie sehr rassistische Kategorien die Pädagogik bis heute bestimmen, habe ich an anderer Stelle ausführlich beschrieben („Erziehung und Faschismus“ in „Lernen in Freiheit“, Unrast Verlag 1993). Dem Fazit von Autoren wie Detlev Peukert, Heinrich Kupffer, Hans-Uwe Otto und Heinz Sünker, nach dem die ideologischen Unterströmungen, die den Rassismus im Bereich sozialer Arbeit und in den Wissenschaften vom Menschen erst ermöglichten, bisher kaum offengelegt wurden, ist zuzustimmen.
–Entsprechend vehement muß den der pädagogischen Rekrutierung dienenden Aussagen von Menschen wie beispielsweise Wolfgang Memmert widersprochen werden, der den Lehrer kurz und griffig als „Führer“ bezeichnet, wohlwissend, daß dieser Begriff „für deutsche Ohren keinen guten Klang hat“. Sein Motto: „Keine Angst vor dem Führer“. Und weiter: „Sich führen lassen, ist prinzipiell etwas Freiwilliges. Es wird die Gutwilligkeit des Geführten vorausgesetzt, also Einsicht in seine Erziehungsbedürftigkeit.“ (in: „Die Führung einer Schulklasse“, Prögel Vlg. 2.Aufl. 1987).
–Erziehungsbedürftigkeit ist die Grundannahme, ohne die keine wie auch immer geartete Pädagogik auskommt. Erziehung und Pädagogik (als deren institutionalisierte Lehre) sind Vorgänge, bei denen die als „unfertig“ betrachteten zu Erziehenden zum Objekt der Erwachsenen werden, die diese mittels bestimmter Richtlinien, Norm- und Wertschemata und Ideologien zu vervollständigen trachten. Grundsätzlich werden Kinder und Jugendliche nicht in ihrem So-Sein akzeptiert, sondern als zu bearbeitende Rohmasse angesehen. Klaus Rödler wies darauf hin, daß der Status der zu Erziehenden dem von Kolonisierten nicht unähnlich ist (in: Kinderbefreiung und Kinderbewußtsein, Afra 1983).
–Das vermeintlich alleinige Wissen der erziehenden Menschen über das, was gut für die Lernenden ist, bewirkt den traditionellen Machtkampf zwischen Erziehenden und „Zöglingen“. Die Folge: „Erziehung impliziert immer ein Gewaltverhältnis von Menschen über Menschen“ (Hermann Giesecke: „Einführung in die Pädagogik, 1969).
–Im Anspruch, Menschen „verbessern“ (d.h. bevormunden) zu wollen – und sei's auch in Form einer „Integration“ –, liegt die Unfähigkeit begründet, „das andere anders sein zu lassen“ (Mostafa Arki), „Andersartige“ also so, wie sie sind, als gleichwertige Menschen zu begreifen. So bereitet Pädagogik, wenn auch im Einzelfall von vielen Wohlmeinenden sicher ungewollt, einer politischen Gleichschaltung den Boden.
–Die andere Seite der Medaille ist die berühmt-berüchtigte Wendehals-Mentalität: in jeder Lage zu wissen, was man(n)/frau zu fühlen hat, sich stets gekonnt einzufügen und immer die passende Rolle spielen zu können. „Ein außengelenktes Selbst gehorcht der Macht, die im Augenblick herrscht“ (Arno Gruen: „Der Wahnsinn der Normalität“, dtv, 4.Aufl. 1992, S.45). Das stetige Bestreben nach dem richtigen Image übertüncht dabei nur notdürftig die innere Leere der Handelnden. Es ist dabei nur ein kleiner Schritt von der Unterdrückung der Autonomie zur seelischen Pathologie (vgl. z.B. die Erinnerungen des Auschwitz- Kommandanten Rudolf Höß: „Kommandant in Auschwitz“, dtv, 13. Aufl. 1992, S.25).
–Die iranische Ärztin Sonia Sedigghi weist in einem Essay auf die Besonderheiten spezifisch deutscher Erziehung hin: „In Deutschland spürt man ständig Grenzen. Jeder hat einen eigenen Bereich, den er mit einem Zaun, einer Mauer oder einem imaginären Stacheldraht eingrenzt, ihn verteidigt, juristisch sichert und versichert“ (Die Zeit Nr.4 v. 22.1.93)
–Zu dem übertriebenen, paranoiden Besitzstandsdenken allen äußeren Einflüssen gegenüber gesellt sich nach innen „das Prinzip Uniformierung“: „Die Deutschen erwecken nicht selten den Eindruck, sie bewegten sich im Gleichschritt, als würden sie einer unsichtbaren Kommandostelle folgen“ (Heleno Sana: „Das Vierte Reich“, Rasch + Röhring 1990, S.126)
–Der Erziehungsmaxime, jeglichen Eigensinn zu brechen und Konformität als oberstes Ziel zu setzen, haben sich seit jeher nicht zuletzt die Kirchen verschrieben, und sie haben den dafür notwendigen Dualismus von Autorität und Gehorsam ihren Gläubigen perfide als „gottgewollt“ eingebleut. Das hat Konsequenzen, gerade in einem Land wie Deutschland, in dem Staat und Kirche bis heute nicht getrennt sind, wo auch der Einfluß der Kirchen auf Bildung und (Staats-)Schule entsprechend noch immer groß ist.
–Ein eigenes, bisher kaum aufgearbeitetes Kapitel ist das Verhältnis zwischen Ökonomie und Rassismus. So machte sich die rassistische Ausgrenzungspolitik der Nationalsozialisten vor allem an einer rigiden Arbeitsideologie fest, die Vernichtung, zumindest aber Zwangssterilisierung der „Arbeitsscheuen“, „Schmarotzer“, „Ballastexistenzen“ wurde, pervertiert unter dem Schriftzug „Arbeit macht frei“ am KZ, sozialdarwinistisch und ökonomisch begründet. Nach ähnlichen Argumentationsmustern werden heute Arbeitende, soziale Randgruppen, sogenannte „Gastarbeiter“, „Scheinasylanten“ etc. einzig nach der Kategorie der Verwertbarkeit beurteilt und nach dem Prinzip „teile und herrsche“ gegeneinander ausgespielt.
–Gerade im „Wirtschaftswunderland“ Deutschland herrscht ein regelrechter „Wirtschafts- und Leistungspatriotismus“. Der scheinbar objektivierte Jargon des ökonomischen Wettbewerbs trägt mit Aussagen wie der des Weltbank- Vize, nach der „die ökonomische Logik untadelig“ sei, „Giftmüll in den Ländern mit den geringsten Kosten zu entsorgen“ (Greenpeace-Nachrichten), ihren Teil bei zu entsprechenden Überlegenheitsgefühlen.
–Die Gewalt in der Schule spiegelt nur die reale Gewalt dieser sozialdarwinistischen Gesellschaft wider. Ihr pädagogisch, mit Appellen und ähnlichem, entgegenzutreten, ist nutzlos, da die anvisierten Adressaten nicht erreicht werden. So ist die Mahnung, ein Türkenwitz sei diskriminierend, witzlos – er soll ja diskriminieren. Und: Wie können PädagogInnen glaubwürdig Gewalt ächten, wenn sie andererseits Herrschaftsverhältnisse pädagogisch legitimieren? Das ist ein heimlicher Lehrplan, der tiefer wirkt als alle Planspiele!
–Obendrein schafft sich die Pädagogik mehr Probleme, als sie löst. Ein Beispiel dafür ist die „Legasthenie“, mit der – anstatt diese komplizierte Sprache zu entrümpeln – Zehntausende zu „Schulversagern“ abgestempelt werden.
–Auch für den Analphabetismus gilt: es ist ein weitverbreiteter Mythos, anzunehmen, mit noch mehr Verschulung würden die Menschen mehr, besser oder gar effektiver lernen. Im Gegenteil, selbst bei den „Kulturtechniken“ läßt sich Ivan Illich folgen, der darauf hinwies, daß viele SchülerInnen nicht wegen, sondern trotz der Schule lernten.
–Während einerseits der Entwicklungsraum „Kindheit“ immer mehr institutionalisiert und überwacht wird – so wird das Leben und Lernen in pädagogisch betreuten Abenteuerspielplätzen, Stadtbauernhöfen etc. organisiert, während eigenständige Entwicklungsmöglichkeiten von Beton und Asphalt erstickt werden –, ächzt und knirscht es an allen Ecken und Enden: bereits im Jahre 1980 wurden 36.464 Kinder und Jugendliche vermißt gemeldet – seitdem wird diese Statistik, angeblich aus „Datenschutzgründen“, nicht mehr geführt, doch ist anzunehmen, daß die Tendenz steigend ist (Angaben lt. Hans-Jürgen Hofman, in „enfant t., Nr. 7/Mai '89, S.11).
–Die Dimensionen dieser Problematik werden nicht zur Kenntnis genommen, „Jugend“ als Thema wird allenfalls populistisch berührt, so wenn sich Rita Süssmuth für 90 Minuten in ein Genesis- Konzert quält, denn: „Wie sollen Politiker Entscheidungen zugunsten der jungen Generation treffen, wenn sie deren Gefühle und Empfindungen nicht kennen?“ Eineinhalb Stunden Nachhilfe reichen da offensichtlich, um dieses Defizit auszugleichen (Hannoversche Allgemeine Zeitung, 13.7.92).
–Derweil ist die pädagogische Gewalt in vollem Aufschwung, das Buch Jirina Prekops „Der kleine Tyrann“, das die „Festhaltetherapie“ propagiert und vor dem der Deutsche Kinderschutzbund warnte (ein „renitentes“ Kind wird so lange gewalttätig festgehalten, bis sein Wille gebrochen ist, und anschließend für seine „Besserung“ und „Einsicht“ mit Lob überhäuft), erzielte alleine als Hardcoverausgabe in 14 Auflagen eine Auflagenhöhe von über 100.000 Exemplaren von 1988-91 (und seitdem mehrere Taschenbuchausgaben)!
Diese Aufzählung ist bei weitem nicht vollständig. Vernachlässigt wurde auch die Tatsache der unterschiedlichen Sozialisation von Jungen und Mädchen (wie Studien belegen, beginnt diese Ungleichheit bereits mit dem Stillen). Ich habe alles nur angerissen, um die Vielschichtigkeit dessen anzuzeigen, was die PädagogInnen nun mit Patentrezepten in Griff kriegen wollen, selbstverständlich ohne Staat, Kapital, Kirche weh zu tun. Hier wird die Farce ihres Vorgehens deutlich. Ein Muster des deutschen Regelbarkeitswahns: entsprechend geben sich weite Teile der deutschen Öffentlichkeit – von Konservativen bis zu Autonomen – der Illusion hin, durch eine Verbotspraxis gegenüber neofaschistischen Gruppierungen ließe sich dem Problem zunehmender Fremdenfeindlichkeit adäquat begegnen, als ließe sich dieses Denken (das schließlich nicht vom Himmel gefallen ist!) schlicht verbieten.
„Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung“, so Theodor W. Adorno 1966. Wir müssen konstatieren: die Erziehung hat versagt. Was derzeit fehlt, ist eine radikale Erziehungs-, Schul- und Staatskritik, die Ursachen der gegenwärtigen Gewalt und des gegenwärtigen Hasses klar und grundsätzlich benennt. Manchmal aber werden die Allmachtsvorstellungen der PädagogInnen jäh gebremst: „Erstaunlicherweise geraten Kinder von Eltern, die sich um pädagogische Theorien wenig kümmern, immer noch gut“ (Funk Kolleg Erziehungswissenschaften). Gerald Grüneklee, Sehnde
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