: Von Anstiftern und Sündenböcken
■ Jim Thompsons Krimi „1.280 schwarze Seelen“
Nick Corey ist ein faules, feiges Arschloch. Er ist Sheriff in dem 1.280-Seelen-Bezirk Potts County, ein Witz also, ein Nichts. Wenn er kurz vor Mittag aufsteht, pöbelt er seine Frau an, bis sie heult oder mit dem Essen nach ihm schmeißt. Dann geht er in sein Office, um die Füße auf den Schreibtisch zu legen. Meist passiert nichts in dem US- Südstaatenkaff. Absolut nichts. Nick Corey ist ein Ewig-Zukurzgekommener, er hat kein Ziel, keine Überzeugungen und keine Zukunft. Schon als Kind hat ihn der Vater geschlagen und mit heißem Essen überschüttet – „Strafe“ für den Tod der Mutter im Kindbett.
Der umstrittene und erst vor zehn Jahren wiederentdeckte Autor Jim Thompson (als er 1977 starb, war keines seiner 29 Bücher auf dem US-Markt erhältlich) schrieb 1964 den Kriminalroman „1.280 schwarze Seelen“, der jetzt erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt wurde. Darin skizziert er mit Sheriff Corey einen Charakter, der schon lange nicht mehr an Gerechtigkeit glaubt, weil das Leben ihm jeden Tag aufs neue das Gegenteil beweist. Nach all der Verbitterung, den verdrängten Entscheidungen, den nicht gesagten Worten und heruntergeschluckten Erniedrigungen meint er eines Tages, seine Lektion gelernt zu haben: „Fester zuschlagen, als man es bekommen hat!“ Und tatsächlich, nach dem nächsten Tritt in den Arsch rächt er sich kaltblütig für die kleinen, alltäglichen Erniedrigungen. Er wird zum Serienmörder, tötet und tritt seinen röchelnden Opfern noch in die Eier – blinde Rache eines Menschen, der sich selbst als ewiges Opfer bemitleidet. Thompson läßt den verkorksten Sheriff dazu ein ganzes Gedankengebäude über seinen Bluttaten errichten, eine „Theologie des Mordes“ (Spiegel), die jedoch von vornherein moralisch zum Scheitern verurteilt ist. So versteigt er sich schließlich sogar darin, er sei J.C. selbst, Killer von Gottes Gnaden sozusagen. (Eine skurrile Offenbarungsszene übrigens, die dem guten alten Fante alle Ehre gemacht hätte, man kommt aus dem Prusten kaum heraus!) Durch den Aberwitz einer solchen „Ausrede“ macht Thompson deutlich, daß es keine Entschuldigung gibt. Die Kriminalgeschichte gewinnt hier ungewollt an Aktualität, denn nicht Täter und Opfer, sondern Anstifter und Sündenböcke rücken in den Vordergrund: Corey haßt die „Leute, die immer nach einfachen Antworten auf komplizierte Fragen suchen. Typen, die Juden oder Farbige für alles Schlechte verantwortlich machen, was ihnen im Leben passiert, die sagen, daß alles die Schuld von diesem oder jenem ist, niemals ihre Schuld, und die einzige Lösung sei, mit diesen oder jenen für immer aufzuräumen... Ein Blinder, der aus dem Fenster pinkelt, ist besser als der sehende Mann, der ihn dazu angestiftet hat. Und weißt du, wer der Anstifter ist? Gott, das ist doch fast jeder von uns, jeder Hurensohn, der sich wegdreht, wenn es richtig gefährlich wird, jeder Dreckskerl, der auf seinem Schwanz sitzt, einen Finger im Hintern und einen im Mund, und trotzdem hofft, daß ihm nichts passieren wird...“
Gerade die sehr zwiespältige Moral macht aus dem rabenschwarzen Groschenroman ein interessantes, weil streitbares Stück Sozialkritik. Die Perspektive des psychisch und sozial völlig aus den Gleisen geratenen Ich-Erzählers zwingt dem Leser eine gewisse Anteilnahme auf – adäquates Stilmittel, um Geschichten vom alltäglichen Wahnsinn der Kleinstadthöllen zu erzählen.
Auch stilistisch pflegte Thompson (dessen Vater sich übrigens mit der Füllung einer Matratze erstickte...) stets eine radikale Four- letter-word-Sprache, die den Leser in ein Wechselbad von Kopfschütteln, Weinen und Lachen hineinzieht: „Liebet einander und bumst niemanden, es sei denn, er beugt sich nach vorne. Und vergib uns unsere Sünden, denn wir sind eine kleine Minderheit von nur einem einzigen Menschen.“ Mario Göhring
Jim Thompson: „Zwölfhundertachtzig schwarze Seelen“. Deutsch von E.R. von Schwarze und Andre Simonoviescz. Diogenes, Zürich 1992, 260 Seiten, 14,80 DM
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