: Aus dem Bett heraus
■ Franz Kafkas „Träume“ bieten wenig Neues
Schlafen und Träumen haben sich für den eigensinnigsten aller Prager Versicherungsangestellten gegenseitig ausgeschlossen. Am 2.Oktober 1911 notiert Franz Kafka penibel in sein Tagebuch, wie es sich für einen sorgfältigen Juristen gehört: „Schlaflose Nacht. Schon die dritte in einer Reihe. Ich schlafe gut ein, nach einer Stunde aber wache ich auf, als hätte ich den Kopf in ein falsches Loch gelegt. Ich bin vollständig wach, habe das Gefühl, gar nicht oder nur unter einer dünnen Haut geschlafen zu haben, habe die Arbeit des Einschlafens von neuem vor mir und fühle mich vom Schlaf zurückgewiesen. Und von jetzt an bleibt es die ganze Nacht bis gegen 5 so, daß ich zwar schlafe, daß aber starke Träume mich gleichzeitig wach halten. Neben mir schlafe ich förmlich, während ich selbst mit Träumen mich herumschlagen muß.“
Träume sind dem Dichter eine Last – und doch zugleich die Quelle seiner schöpferischen Kraft. Kafka nämlich entwickelt eine besondere Art des Schreibens. Spätnachts setzt er sich an den Schreibtisch, um sich, physisch wach, gedanklich vor dem Schlafen ins Träumen zu versetzen. In seinen Tagebüchern beschreibt er die „Kraft“ seiner Träume, die in diesen Augenblicken „schon ins Wachsein vor dem Einschlafen“ strahle und durch die er sich seiner dichterischen Fähigkeiten voll bewußt werde: „Ich fühle mich gelockert bis auf den Boden meines Wesens und kann aus mir heben, was ich nur will.“
Kafka bediente sich der Traumstimmung ganz bewußt, um in seinen Schreibrhythmus zu kommen. „Die eigentliche Beute steckt doch erst in der Tiefe der Nacht in der zweiten, dritten, vierten Stunde“, schreibt er im August 1920 der mit Briefen attackierten Milena Jesenska. Daß seine Werke trotzdem alles andere als die dichterische Umsetzung des in der Nacht Geträumten sind, zeigt jetzt ein kleiner, sorgfältig gemachter Band mit dem Titel „Franz Kafka – Träume“. Der italienische Literaturwissenschaftler Gaspare Guidice hat in chronologischer Reihenfolge Textstellen aus Tagebüchern, Briefen, Kurzgeschichten und literarischen Notizen zusammengestellt, in denen Kafka sich über sein Träumen und seine Träume äußert. Vollständig kann die Auswahl natürlich nicht sein: Das Schreiben war für Kafka so symbiotisch mit dem Träumen verschwistert, daß keiner seiner großen Romane ohne unzählige Verweise auf vorherige Traumerlebnisse entstehen konnte. „Ein Traum: Ich befand mich auf einer aus Quadern weit ins Meer hineingebauten Landzunge“, notiert Kafka am 11. September 1912 in sein Tagebuch. „Irgendjemand oder mehrere Leute waren mit mir, aber das Bewußtsein meiner selbst war so stark, daß ich von ihnen kaum mehr wußte, als daß ich zu ihnen sprach. Erinnerlich sind mir nur die erhobenen Knie eines neben mir Sitzenden. Ich wußte zuerst nicht eigentlich, wo ich war, erst als ich mich einmal zufällig erhob, sah ich links vor mir und rechts hinter mir das weite, klar umschriebene Meer mit vielen reihenweise aufgestellten, fest verankerten Kriegsschiffen. Rechts sah man Newyork, wir waren im Hafen von Newyork. Der Himmel war grau aber gleichmäßig hell.“ Im selben Jahr beginnt Kafka, seinen ersten (nie abgeschlossenen) Roman „Der Verschollene“ zu schreiben. Der Roman, der 1927, drei Jahre nach Kafkas Tod, unter dem von Max Brod gewählten Titel „Amerika“ erscheint, beginnt mit einer Beschreibung der Einfahrt in den Hafen von New York.
Der weitaus größere Teil der Traumfragmente Kafkas allerdings findet keinen Eingang in spätere Stücke. „Ich träumte, daß ich Goethe deklamieren höre, mit einer unendlichen Freiheit und Willkür“, schreibt er am 10. Juli 1912, und 16. November 1911: „Heute Mittag vor dem Einschlafen – ich schlief aber gar nicht ein – lag auf mir der Oberkörper einer Frau aus Wachs. Ihr Gesicht war über dem meinen zurückgebogen, ihr linker Unterarm drückte meine Brust.“ Viele solcher Skizzen finden sich im ebenfalls gerade erschienenen Band „Nachgelassene Schriften und Fragmente II“ der kritischen Werkausgabe wieder.
Nach einem „neuen“ oder „anderen Kafka“ werden die LeserInnen seiner Traumprotokolle dennoch vergeblich suchen; schlagende Entdeckungen sind in der neuen Traum-Anthologie nicht zu machen. Erotische Träume sind in dem vorliegenden Band nicht zu finden.
In seinem gründlichen Nachwort stellt Hans-Gerd Koch Kafkas Träume in den Kontext der Werkgenese und verzichtet dabei auf inhaltliche Interpretation. Dafür liefert der Mitherausgeber der kritischen Werkausgabe aufschlußreiche Einblicke in die Qualen, die Kafka durch seine Träume erlitten hat, obwohl sie für sein Schreiben gleichzeitig notwendig waren. „Von der Literatur aus gesehen ist mein Schicksal sehr einfach“, so Kafka am 6. August 1914 in seinem Tagebuch. „Der Sinn für die Darstellung meines traumhaften innern Lebens hat alles andere ins Nebensächliche gerückt und es ist in einer schrecklichen Weise verkümmert und hört nicht auf zu verkümmern. Nichts anderes kann mich jemals zufriedenstellen.“ Und sechs Jahre später geht folgende Klage an Milenas Adresse: „Qual, das heißt einen Pflug durch den Schlaf – und durch den Tag – führen, das ist nicht zu ertragen.“
Oft wachen Kafkas literarische Figuren aus Träumen auf und finden eine furchtbare Veränderung vor: Gregor Samsa sieht sich in der berühmten Erzählung „Die Verwandlung“ „aus unruhigen Träumen“ erwachend in einen riesigen Käfer verwandelt; Josef K. verhaften die Beamten im „Urteil“ aus dem Bett heraus. (Wer mehr wissen will: Über die „Bedeutung des Bettes in den Romanen von Franz Kafka“ liegt inzwischen eine umfangreiche Dissertation vor.) Stefan Koldehoff
„Franz Kafka – Träume“. Herausgegeben von Gaspar Giudice und Michael Müller mit einem Nachwort von Hans-Gerd Koch. Fischer Taschenbuch 11148, 112 Seiten, 12,90Mark
„Franz Kafka – Nachgelassene Schriften und Fragmente II“ (in der Fassung der Handschrift). Herausgegeben von Jost Schillemeit. S. Fischer Verlag, Frankfurt, 692 Seiten, 78,00 Mark
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