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Die blühende Anarchie von Hargeisa

Der Nordteil Somalias, der sich als „Somaliland“ unabhängig erklärt hat, will mit der Militärintervention im Rest des Landes nichts zu tun haben/ „Wenn die UNO kommt, werden wir kämpfen“  ■ Aus Hargeisa Bettina Gaus

Auf einem unbebauten Grundstück in der Nähe des Zentrums von Hargeisa steht eine alte rostige Badewanne neben einigen großen Wellblechtanks, bis an den Rand mit trüben Flüssigkeiten gefüllt. Darin schwimmen Tierfelle und Lederteile in unterschiedlichen Stadien der Verarbeitung. „Maschinell würde alles viel schneller gehen, aber von Hand dauert es ewig“, erklärt Ahmed Haschi. Acht Tage dauert es, bis ein Fell in den chemisch angereicherten Laugen zu Leder geworden ist. Durchschnittlich verkauft der Kleinunternehmer im Monat rund vierzig größere Stücke an die Schuster der nordsomalischen Stadt.

Es ist ein mühsames Geschäft. Früher hat Ahmed Haschi, der in der DDR ausgebildet wurde, hier in Hargeisa eine Fabrik beliefert, die rund 2.000 Felle im Monat verarbeitete. 1988 aber ging seine Welt zu Bruch: Systematisch verwüsteten damals Soldaten des somalischen Präsidenten Siad Barre die Stadt, bombardierten Häuser, verminten Straßen und schlugen fast die gesamte Bevölkerung in die Flucht. Um die Guerillabewegung SNM (Somalische Nationalbewegung) zu bezwingen, die seit Beginn der achtziger Jahre das Regime bekämpfte, führte der Diktator Krieg gegen das eigene Land.

Ahmed Haschi floh damals wie Tausende seiner Landsleute über die Grenze nach Äthiopien. Ein Sohn starb im Flüchtlingslager im Alter von nur wenigen Wochen, mit den drei überlebenden Kindern ist die Familie vor acht Monaten nach Hargeisa zurückgekehrt. Vom einstigen Heim stehen nur noch die Grundmauern. Das Dach fehlt, Türen und Fenster sind herausgerissen. Notdürftig hat sich die Familie in zwei Zimmern des Nachbarhauses eingerichtet, das dem Schwiegervater des Lederproduzenten gehört.

Der Alltag ohne Strom und fließendes Wasser ist ein täglicher Kampf. Aber er läßt sich gewinnen: Die Einkünfte aus der Fellverarbeitung reichen zum Leben, und in Geschäften läßt sich wieder kaufen, was benötigt wird. Es gibt in Hargeisa sogar wieder mehr als nur das Notwendigste. Auf dem großen Markt werden neben Tomaten, Fleisch und Spaghetti auch Luxuswaren feilgeboten: Goldketten und Ohrringe, Parfüm, eine breite Auswahl von Nagellack und Lippenstiften.

Handel nach Arabien

Wer kann sich das leisten? Noch immer gibt es doch weder Fabriken noch einen Verwaltungsapparat, der regelmäßige Einkommen garantieren könnte.

„Wer hier 5.000 Dollar Investitionskapital hat, kann schnell zu Geld kommen“, erklärt der Journalist Abdulrahman Yussuf Artan. Der Viehhandel in arabische Länder, das Transportwesen ins benachbarte Äthiopien oder Im- und Export von Gemüse böten weite Verdienstspannen. Beispiele für Unternehmergeist gibt es: Im Hafen der Stadt Berbera liegen etwa zwanzig Schiffe, die meisten kleine Frachter, auf deren Decks dichtgedrängt das Vieh steht. Der Handel mit Schafen, Ziegen, Ochsen und Kamelen, vorwiegend mit dem Jemen und mit Saudi-Arabien, läßt sich mit dem Massenexport früherer Jahre längst noch nicht vergleichen. Aber ein Anfang ist gemacht: Insgesamt sind 1992 fast 700.000 Stück Vieh von Berbera aus ins Ausland verschifft worden.

Was sich aus eigener Initiative heraus organisieren läßt, wird organisiert. In einer zerbombten, verwüsteten Schule sitzen auf Pappdeckeln und leeren Blechdosen etwa fünfhundert Kinder. Die Gebühren, die ihre Eltern jeden Monat entrichten müssen, ernähren einundzwanzig Lehrer. Die Schüler sollen zum Realschulabschluß geführt werden. Aber bald ist Regenzeit. Dann müssen die meisten Kinder nach Hause geschickt werden. Nur sechs der insgesamt sechzehn Klassenräume haben ein Dach. Es ist ein neues, funkelndes Wellblechdach, gut verarbeitet und stabil. „Das haben wir von UNDP im November 1991 bekommen“, erklärt Schulleiter Muhammed Ahmed Ali. Warum hat das UNO-Entwicklungsprogramm nicht gleich die ganze Schule gedeckt? Der Lehrer zuckt die Achseln: „Keine Ahnung.“

Ausländische Hilfe ist kaum in diese Region geflossen, obwohl die Bevölkerung dort die Hauptlast des Krieges gegen den im Januar 1991 gestürzten Diktator Siad Barre getragen hatte, der sich in seinen letzten Jahren nur mit westlicher Militärhilfe an der Macht hatte halten können. Hier herrschte niemals medienwirksamer Hunger – es wurde nur Geld für den Aufbau von Infrastruktur und Verwaltung, für die Reparatur von Fabriken, Schulen und Krankenhäusern benötigt. Die wenigen größeren Hilfsprojekte in der Region zeigen gute Ergebnisse.

Die Hilfe von außen blieb aus

Das Internationale Rote Kreuz hat Hunderttausende von Tieren gegen Parasitenbefall geimpft. Eine britische Firma hat im Auftrag von UNO und EG 440 Somalis als Minenräumer ausgebildet. Hargeisa ist jetzt „soweit wie möglich“ geräumt, auch zwei Hauptstraßen nach Äthiopien gelten als sicher.

Nach dem Sturz des alten Regimes hatte in der Region Euphorie geherrscht. Die siegreiche Guerillabewegung SNM fand damals breiten Rückhalt – nach all den Leiden der Vergangenheit konnte es nun ja nur noch aufwärtsgehen. Um nicht in die anhaltenden Wirren im Süden um Mogadischu hineingezogen zu werden, rief eine neue Regierung in Hargeisa das Territorium der einstmals britischen Kolonie „Somaliland“ im Sommer 1991 als unabhängige „Republik Somaliland“ aus. Das sei keine Veränderung von Grenzen, wie sie die Charta der „Organisation für Afrikanische Einheit“ verbiete, so wurde argumentiert, sondern eine Rückkehr zu den Grenzen der Kolonialzeit, als es noch ein Britisch-Somaliland und ein Italienisch-Somaliland gab. Auf Strukturhilfe und ausländische Kredite hofften die politischen Entscheidungsträger als Folge ihres Schritts.

Die Rechnung ging nicht auf. „Somaliland“ wurde international von niemandem anerkannt. Das Vertrauen der Bevölkerung wich Verbitterung: „Die Regierung hat ihre Aufgaben nicht erfüllt“, klagt Abdullahi Aw-Jama, Mitglied des Ältestenrates der Berbera-Region. „Jetzt handeln wir als Regierung.“ Gibt es Kontakte zu Kabinettsmitgliedern in Hargeisa? Die Antwort kommt nach langem Zögern: „Falls notwendig.“ Ist es je notwendig? Abdullahi lacht: „Ich denke nicht.“

„Es gibt keine Regierung“

Auch in Somaliland stehen sich jetzt feindliche Clanmilizen mißtrauisch gegenüber. Zu blutigen Kämpfen ist es in den letzten Jahren mehrfach gekommen. Gegenwärtig herrscht brüchiger Friede – die kriegsmüde Bevölkerung scheint die Autoritäten in ihren jeweiligen Distrikten als gegeben hinzunehmen. General Ibrahim Dhegaweineh in Berbera hat mit den Ministern in Hargeisa nichts mehr im Sinn: „Es gibt keine SNM- Regierung mehr. Ich habe zehn Jahre für die SNM gekämpft, aber die Bewegung hat jetzt völlig versagt. In zwei Jahren hat es die Regierung nicht geschafft, eine Verfassung zu entwerfen, ein Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten und freie Wahlen auszurufen.“

Nicht einmal mehr die Politiker selbst scheinen zu glauben, daß sie das Geschehen noch beeinflussen können. Ein geplantes Interview mit Innenminister Said Muhammed Nuur verzögert sich, weil er sein Ministerium verlassen vorfindet und vor verschlossenen Türen steht. Als der Schlüssel endlich gefunden ist und er in seine Amtsräume bitten kann, wehrt er Fragen nach künftigen Plänen müde ab: „Solange ich keine Steuern von der Bevölkerung oder internationale Hilfe bekomme, gibt es überhaupt nichts, was ich tun kann.“ Wirklich gar nichts? „Die Regierung ist für keines der Probleme in Somaliland verantwortlich.“

Auch der Journalist Abdulrahman Yussuf Arten meint: „Am Grundproblem hier hätte sich nichts geändert, selbst wenn wir in der Regierung die besten Leute der Welt zusammengebracht hätten. Ein Minister ist ja nicht nur ein Titel, sondern Struktur und Macht. Und eben daran fehlt es.“ Ein Fehler sei es allerdings gewesen, daß die SNM nicht schon zu Zeiten des Bürgerkrieges ein konkretes Programm ausgearbeitet habe. Nun räche sich diese Unverbindlichkeit.

Islamisten ziehen aus dem Machtvakuum Nutzen. Sie sollen von Saudi-Arabien, dem Iran und Sudan unterstützt werden und vor allem junge Männer mit Auslandsreisen, Stipendien und anderen finanziellen Anreizen zu gewinnen versuchen. Ein militanter Flügel soll Gewehre und Militärfahrzeuge in großer Zahl aufgekauft haben.

In Hargeisa wurden vor einigen Wochen fünf Frauen als „Huren“ zu Tode gesteinigt. Faisch Hadji Jamur, der in der nordsomalischen Hauptstadt als „Generalstaatsanwalt“ agiert, meint, diese Tat habe die Fundamentalisten viele Sympathien gekostet, weil sie ohne vorangegangenen Prozeß verübt worden sei. Aber auch am Strafgericht der Stadt, das inmitten des Chaos Urteile fällt und vollstreckt, wird nach islamischem Recht geurteilt. Für den Genuß von Alkohol droht Auspeitschung, auf Ehebruch steht Todesstrafe.

„Mogadischu – nein!“

Gerichtsverfahren in einer Stadt ohne Regierung, ein blühender Markt neben zerborstenen Häuserruinen, Geldwechslerinnen, die in aller Öffentlichkeit ohne Angst vor Räubern ihr Geschäft ausüben, und Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen, die ihre Arbeit durch ständige Plünderungen in Frage gestellt sehen: der Alltag in Somaliland ist von Widersprüchen bestimmt.

In der Kleinstadt Buroma im Westen der Region diskutieren in diesen Wochen etwa 1.000 Älteste aus dem ganzen Land über die Zukunft. Nicht alle Bewohner von Somaliland sind mit der Loslösung vom Süden einverstanden – vor allem unter Angehörigen der Minderheitenclans Gadarburssi und Darod finden sich viele, die eine Rückkehr in den Gesamtstaat wünschen. Der Konflikt ist programmiert: Die Mehrheit des größten Clans, der Issak, will mit den Landsleuten im Süden nichts mehr zu tun haben.

„Mogadischu – nein!“ rufen Marktfrauen in Hargeisa erbittert vorbeigehenden Ausländern zu. Die Sängerin Fatuma Abdullahi Kahin, seit 33 Jahren eine lokale Berühmtheit, stößt zornig hervor: „Die Somalis im Süden haben unsere Leute getötet und mein Haus zerstört. Ich bin fertig mit ihnen.“ Ist keine Versöhnung denkbar? Die würdige, hochgewachsene Frau zieht einen Schleier über ihr Gesicht, Tränen steigen ihr in die Augen: „Danach dürfen Sie mich nicht einmal fragen...“

Ende Februar dachten UNO- Vertreter laut darüber nach, ob es nicht sinnvoll wäre, Truppen auch in diese Region zu entsenden. Die darauffolgende Empörung einte viele, die sich über andere Fragen längst zerstritten hatten – vom General in Berbera bis zum Innenminister in Hargeisa – weil sie fürchten, zur Wiedervereinigung mit dem Süden gezwungen zu werden. Allzu lange sei man vom Ausland im Stich gelassen worden. Das letzte, was Somaliland bräuchte, seien noch mehr Waffen und Soldaten. „Wenn die UNO wirklich Truppen schickt, werden wir in die Berge gehen und sie bekämpfen“, droht ein Geschäftsmann in Berbera. „Wir haben im Guerillakampf genügend Erfahrung.“

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