Israel debattiert die Zukunft Gazas

Wieder jüdischer Siedler erstochen/ Hunderte von Festnahmen, elf Palästinenser angeschossen/ Lynchszene führt zu Konflikt mit UNO-Hilfsorganisation UNRWA  ■ Aus Tel Aviv Amos Wollin

Nach einer einwöchigen Abriegelung des Gaza-Streifens durch die Besatzungsbehörden konnten gestern morgen rund 30.000 palästinensische Tagelöhner wieder zu ihren Arbeitsplätzen in Israel fahren – allerdings nur nach langwierigen Kontrollen am Checkpoint Erez, die sich über drei Stunden hinzogen. Anlaß für die Abriegelung war der Amoklauf eines jungen palästinensischen Arbeitslosen aus Gaza, der in Tel Aviv zwei Passanten erstochen und neun jüdische Bürger verletzt hatte. Seither wurde ein weiterer Israeli im südlichen Teil des Streifens von einer erbitterten Menge ermordet.

Gerade als der Übergang nach Israel wieder offen war, wurde gestern die Leiche eines ermordeten jüdischen Siedlers im südlichen Teil des Gaza-Streifens gefunden. Die Spuren zweier des Mordes verdächtigter Palästinenser sollen in Richtung des Flüchtlingslagers Khan Yunis führen. Gewöhnlich folgen auf solche Attentate neuerliche Repressalien und kollektive Strafaktionen. So wurden bei einer großangelegten Razzia israelischer Sicherheitskräfte gestern Hunderte von Palästinensern festgenommen. Bei Protesten in Dschabalia und Rafah wurden elf Palästinenser von Soldaten durch Schüsse verletzt.

Der Wiederöffnung des Gaza- Streifens gingen lange Kabinettsdebatten in Jerusalem voraus, bei denen die immer ernster werdenden Sicherheitsprobleme von Israelis inner- und außerhalb des besetzten Gebiets im Mittelpunkt standen. In diesem Zusammenhang schlugen einige Minister vor, Israel solle aus dem Gaza-Streifen abziehen. Die Regierung könne z.B. ein Ultimatum stellen, wonach Israel „Gaza sich selbst und dem Chaos überläßt“, falls es im Laufe des kommenden Jahres zu keiner „Autonomie“-Lösung für die besetzten Gebiete kommen sollte. Ministerpräsident Jitzhak Rabin und die Mehrheit der Regierungsmitglieder lehnen diesen Vorschlag, der im übrigen nicht neu ist, jedoch ab. Schließlich ist Gaza im Rahmen der Nahost-Gespräche eines der Verhandlungsobjekte, und ein sich selbst überlassener Gaza- Streifen könnte zum Grundpfeiler eines unabhängigen Palästinenserstaates werden. Und eine palästinensische Eigenstaatlichkeit oder Selbstbestimmung widerspricht den politischen Interessen der Regierung.

Ein anderer Vorschlag zur Verbesserung der Sicherheit der Israelis sieht die permanente Abriegelung des Gaza-Streifens oder weitere drastische Einschränkung der Einreiseerlaubnis für Palästinenser, die in Israel arbeiten dürfen, vor. Das Gegenargument: Eine derartige Isolierung würde nur dazu führen, daß dort ein noch gefährlicherer explosiver „Dampfkessel ohne Sicherheitsventile“ entstehen werde, der Israel sehr bald zu einer massiven und blutigen militärischen Intervention zwingen würde. Innenminister Arieh Deri (Schass) kam zu dem Schluß, daß das Problem so gut wie unlösbar ist. Anders gesagt: Israel kann Gaza weder ausspucken noch runterschlucken...

Inzwischen hat der Vorfall in der vergangenen Woche, bei dem ein Israeli von einer wütenden Menge umgebracht wurde, zu einem Konflikt zwischen den israelischen Behörden und dem UNO- Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) geführt. Die Regierung beschuldigt Katherine Striker, US-Amerikanerin und UNRWA-Mitarbeiterin, dem getöteten Israeli nicht zu Hilfe gekommen zu sein und die Militärbehörden nicht alarmiert zu haben. Strikers Aufgabe ist es, Zwischenfälle oder Zusammenstöße zwischen den Besatzungstruppen und der Zivilbevölkerung zu beobachten, darüber zu berichten und eventuell auch schlichtend einzugreifen. Sie gibt an, am Tatort erst angekommen zu sein, als das Opfer bereits tot in seinem Auto lag. Eine Gruppe palästinensischer Jugendlicher habe ihr nicht gestattet, sich dem Opfer zu nähern. Alle ihre Versuche, das UNRWA-Hauptbüro in Gaza telefonisch zu erreichen, seien aus technischen Gründen erfolglos geblieben, berichtete Striker. Der nächste Militärposten, mit dem sie hätte in Verbindung treten können, sei zwei Kilometer weit entfernt gewesen. Da auch keine Funkverbindung zwischen den UNRWA-Beobachtern und den Militärbehörden existiere, sei das Militär erst 15 bis 20 Minuten nach dem Überfall am Tatort erschienen. Grenzschützer hätten ihr dann befohlen, den Ort zu verlassen, sagte Striker.

Israels stellvertretender Außenminister Jossi Beilin erklärte, daß das Außenministerium möglicherweise fordern wird, daß die UNRWA-Mitarbeiterin ihres Postens enthoben wird und das Land verläßt, falls sich herausstellt, daß sie sich unmenschlich verhalten habe. In der Vergangenheit mußten bereits einige UNRWA-Vertreter wegen verschiedener israelischer Beschwerden vom Wiener Hauptquartier der UNRWA abberufen werden.

Der UNRWA-Sprecher in Gaza sowie der Generaldirektor der Organisation in Wien, Ilter Türkmen, wiesen die Anschuldigungen nachdrücklich zurück und protestierten gegen die intensive Medienkampagne, die in Israel gegen die UNRWA eingeleitet wurde. Auch Beschwerden gegen die angebliche einseitige pro-palästinensische Haltung der UNRWA wurden zurückgewiesen. In einem Brief an den israelischen Botschafter in Wien betonte Türkmen, daß die UNRWA stets bemüht war und ist, Menschenleben zu retten.

Gerade in letzter Zeit sah sich die UNRWA wiederholt genötigt, öffentlich auf grobe Menschenrechtsverletzungen durch die israelischen Besatzungstruppen hinzuweisen und ihr „Bedauern“ darüber auszudrücken. Auch die häufige Anwesenheit der UNRWA- Beobachter bei Zusammenstößen mit Palästinensern und Szenen, bei denen keine Zeugen erwünscht sind, haben der UNRWA den zunehmenden Ärger der Besatzungsbehörden zugezogen.