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Vorwärts, Metaller, es geht zurück!

Nach der Kündigung der laufenden Tarifverträge durch die Arbeitgeber in Ostdeutschland fürchten die Metaller um ihren gerechten Lohn und ihre Arbeitsplätze/ IG-Metall-Basis bröckelt  ■ Von Erwin Single

Berlin (taz) – Das schlimmste ist die Ungewißheit. Seit mehr als zehn Jahren ziehen die drei Schweißer der Dessauer Waggonfabrik ihre Blechnähte. Die Qualität stimmt, die Produktivität auch, nur im Geldbeutel zahlt sich die Schufterei nicht aus. Im Durchschnitt arbeiten sie drei Stunden mehr in der Woche als im Westen, haben sechs Tage weniger Urlaub – und das bei etwas mehr als 2.000 Mark brutto. Am 1. April sollte der Lohn an die Westlöhne angeglichen werden. Doch die Arbeitgeber haben den laufenden Tarifvertrag einseitig aufgekündigt. Heute will die IG Metall noch einmal beraten. Gestern hat der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Dieter Kirchner, der Gewerkschaft neue Gespräche angeboten.

Wie so oft in Ostdeutschland klaffen auch bei den Tarifen sozial Wünschenswertes und ökonomisch Machbares weit auseinander. Rund 350.000 Metaller, gerade so viele sind seit der Wende von den über einer Million Beschäftigten geblieben, fürchten um ihren gerechten Lohn, aber auch um ihren Job. Im Streit um die Stufenlöhne haben sich die Tarifparteien derart festgefahren, daß nicht nur ein in Deutschland bislang einmaliges Tarifchaos droht, sondern ihnen zudem das Klientel reihenweise den Rücken kehrt.

Franz Steinkühler will an dem 26prozentigen Tarifsprung festhalten. Er denke nicht daran, so der IG-Metall-Chef, sich durch Wortbruch die Mitgliederbasis wegzusprengen. Industriellengeneral Hans-Joachim Gottscholl dagegen muß fürchten, daß immer mehr Betriebe den Verband verlassen, wenn der Stufenvertrag nicht kippt. Bei Gesamtmetall heißt es: „Die Firmen laufen entweder davon oder gehen Pleite.“

70.000 Stellen, so haben die Arbeitgeber ausgerechnet, seien bald futsch, wenn es bei dem Tarifsprung bleibe. Das schürt natürlich auch Ängste bei den Arbeitern. Nicht wenige von ihnen gestehen ein, lieber einen Hunderter weniger in der Tasche zu haben, wenn dadurch wenigstens der Arbeitsplatz gesichert ist. „Die Angst um den Arbeitsplatz“, so ist immer wieder zu hören, „macht Belegschaften leicht erpreßbar und schnell opferbereit.“

Durch die Konkurrenz um Arbeit und Arbeitsplätze haben die Tarifparteien ihre Rollen getauscht: bisher steckten immer die Arbeitnehmer ihre Ansprüche ab, jetzt stellen die Arbeitgeber die Forderungen. Und mit der in der Geschichte der Bundesrepublik einmaligen Aufkündigung der bis Ende März 1994 laufenden Stufentarifverträge haben die Unternehmen ihre Ausgangsposition für das künftige Feilschen erheblich verbessert: erstmals seit 1928 wären vom April an weite Teile einer Branche ohne geltenden Flächentarifvertrag – ganz nach dem Geschmack der Neoliberalen im Arbeitgeberlager, für die die tarifgebundene Preisbildung am Arbeitsmarkt ohnehin längst ein Kartell ist, das es mit betrieblichen Öffnungsklauseln zu brechen gilt.

Die Zukunft der kollektiven Lohnpolitik steht auf dem Spiel. Auch bei Gesamtmetall wird zwar weiter auf verbindliche Tarifverträge als „normative Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen“ gesetzt. Doch ob sich alle Ost-Unternehmer und potentielle Investoren weiter durch eine Verbandsmitgliedschaft tariflich binden wollen, scheint mehr als fraglich. Wer, wie viele Firmen im Osten, alte Produkte mit alten Technologien für alte Märkte erzeugt, kann nur über den Preis konkurrieren. Und wo hohe Arbeitslosigkeit herrscht, ist Arbeit billig zu bekommen. Wenn es nach den Thüringer Metall- und Elektrounternehmen geht, wie der Verband in einer Umfrage vor Weihnachten herausgefunden hat, muß die Lohnanpassung gestreckt werden – das jedenfalls wollen 78,9 Prozent der Firmen. Und der Verband der Sächsischen Metall- und Elektroindustrie hat bereits einen nicht unbeträchtlichen Mitgliederschwund zu verkraften – aus Protest gegen den Stufenplan.

Unter den Betriebsräten gibt es nicht wenige, die glauben, daß die 26 Prozent so schnell wie möglich vom Tisch müssen. Dabei hat die Gewerkschaft mit ihren Mitgliedern in Ostdeutschland ohnehin schon Schwierigkeiten genug. Viele Ostkollegen geben ihre Mitgliedsbücher ab, weil sie sich von der Organisation im Stich gelassen fühlen. „In Westdeutschland werden tausend Lichter entfacht, wenn es um die Stahlarbeitsplätze geht“, wettert ein Betriebsrat, „bei uns sind Hunderttausende von Stellen abgebaut worden, ohne daß ein Hahn danach kräht.“

In nicht wenigen Fällen, so ist zu hören, zahlen Metall-Klitschen unter Tarif, obwohl dies nach dem Tarifvertragsgesetz nicht zulässig ist – manchmal sogar mit Zustimmung der Betriebsräte. So haben vor über einem Jahr die Motorradbauer der legendären MZ-Werke in Zschopau auf zehn Prozent ihrer Löhne verzichtet und der Firma als Kredit geliehen, um der Abwicklung durch die Treuhand zu entgehen. Der Betrieb blieb bestehen, doch genutzt hat es den meisten wenig: nicht einmal mehr hundert Beschäftigte zählt das inzwischen privatisierte Unternehmen. Die Belegschaft der Stahl- und Anlagenbau AG in der Nähe von Bitterfeld hat eine Nullrunde bis Ende des Jahres eingelegt. Die Dessauer Waggonbauer halten davon nichts: „Was bringt schon ein Lohnverzicht von einigen Prozent?“

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