: Terror vor 2000 Jahren
■ Uraufführung von „Der Taubstumme“ in Dresden
Die Kleine Szene der Sächsischen Staatsoper betreibt Bibelforschung: Ein Taubstummer weigert sich, von Jesus geheilt zu werden, der aber ohnehin nicht Hand an ihn legen will, eher schon an die Magd Maria. Wo ist das Problem? Die Meute fordert ein Wunder, sie akzeptiert weder den taubstummen Totalverweigerer noch den heilungsmüden Messias; die Meute will nicht Jesus Light, sie will das Leitbild Jesus. Und spätestens wenn im Vorspiel auf der Opernbühne der Hahn zweimal kräht (Szenentitel: „Ferien auf dem Bauernhof“), wird klar: Das nimmt kein gutes Ende. Daß der reichliche Premierenapplaus am letzten Samstag in Dresden den Opernabend um ein Viertel verlängerte, hat nicht nur mit der Qualität der Aufführung zu tun: Das Publikum hat sich in der Meute wiedererkannt und mußte diese Ähnlichkeit durch Händeklatschen wieder von sich abschütteln.
In Stephan Krawczyks schlüssigem Libretto ist die gesellschaftliche Brisanz des Stoffs ins Private transponiert: die typische Dreiecksgeschichte von zwei Männern und einer Frau. Daß die Rolle des Taubstummen als Hosenrolle angelegt ist, erweitert gerade in den erotischen Szenen die Ausdruckskraft dieser eher banalen Konstellation.
Michael Zeyfang stellt in seiner überzeugenden Inszenierung wieder den gesellschaftlichen Kontext her. Gerade in seinen Massenchoreographien wird die Bedrohung erlebbar. Wenn sich die DarstellerInnen zu einem Kreuz formieren, wird deutlich: Auch ein Menschenkreuz hat Haken.
Bravourös ist die Leistung der Solisten: Gerald Hupach (Jesus) überzeugt durch kraftvolle und differenzierte Intonation, in den seltenen Belcanto-Passagen durch klaren Glanz ohne falsches Timbre. Gundula Schneider (Der Taubstumme) hat mit ihrem Mezzosopran den größten Tonumfang zu bewältigen und karikiert darstellerisch die Oper als „Kraftwerk der Gefühle“. Die Magd Maria findet in Beate Apitz ihre Idealbesetzung, an der andere Inszenierungen zu knabbern haben dürften. Die lupenreinen Höhen überstrahlen noch fehlendes Volumen in der Mittellage, ohne daß ihrem Sopran dieses kleine Defizit angelastet werden darf. Es ist eher eine Nachlässigkeit des Komponisten Rolf Baumgart, der die drei Solisten ohne Gnade gegen den vierzehnstimmigen Chor ansingen läßt.
Das Ergebnis ist ein orgiastisches Klangbild voller Tiefe und Rätsel, das unter der souveränen Leitung des Dirigenten Christian Münch Schärfe und Konturen gerade in den äußerst schwierigen Chorsätzen gewinnt. Eine A-cappella-Oper, die sich – reißerisch – selbstreflexiv „Der Taubstumme“ nennt, muß wenigstens leisten, daß uns Hören und Sehen vergehen. Für das Hören sorgt der Komponist, die Sorgen sind berechtigt. Und werden vom Regisseur und Ausstatter Michael Zeyfang virtuos in faszinierende Bilder gekleidet (Kostüme: Frauke Schernau/ Zeyfang). In der verblüffenden Stringenz seiner grandiosen Inszenierung zeigt er, daß die Masse Mensch in erster Linie Masse ist. In einem Terzett heißt es: „Ich war stumm/ Ich kann richtig reden/ Wie ein Fisch im Wasser“. Da wird dann der Bogen gespannt von der Bibel zur Mao-Bibel. Überspannt? D. Garip
Nächste Vorstellungen: 12./14.3. und 21./22.5. in der Kleinen Szene der Sächsischen Staatsoper Dresden
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