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■ Eine Replik auf den „Spiegel“-Essay von Peter GlotzEs ist Völkermord

Als Jugendlicher hatte ich eine Maxime: Schlage nicht zurück, wenn du angegriffen wirst. Auch nur die leiseste Gegenwehr macht aus dem hinterhältigsten Angriff nur eine ganz gemeine Prügelei, bei der niemanden mehr interessiert, wer angefangen hat. Die Leute freuen sich, wenn sie keine Partei, auch keine moralische, ergreifen müssen.

Jugendkonflikte sind etwas anderes als tödlicher Terror mit schweren Waffen. Aber genau so ist es den Bosniern seit vergangenem Jahr in der europäischen Diskussion gegangen: Wehr- und waffenlos wurden sie von Tschetniks und serbischer Armee angegriffen, ermordet, vertrieben. Tagtäglich sehen wir Bilder von rennenden Menschen, die von Heckenschützen verfolgt werden.

Nein, es gibt für uns keine Neutralität in diesem Konflikt, solange schwere Waffen gegen Zivilisten eingesetzt werden, solange eine der bestgerüsteten Armeen Europas hinter den Terrorakten der von ihr ausgerüsteten und logistisch gesteuerten Tschetniks steht. Wo umgekehrt Serben von Kroaten oder Bosniern vertrieben wurden, gilt das gleiche. Aber das wirkliche Problem ist: Die Mehrheit der Menschen im ehemaligen Jugoslawien sind Geiseln der serbischen Armee. Wir haben es mit Geiselnehmern zu tun.

Aber aus Furcht vor der Parteinahme wird alles zusammengerieben: Die Frage, ob militärisch gegen den Geiselnehmer vorgegangen werden soll, wird vermengt mit der Frage, ob dies möglich ist, und beides wird dann noch einmal übertüncht von der Frage, ob es überhaupt erlaubt ist. Quer durch Parteien und Fraktionen geht das Pro und Kontra zur Terrorhölle Bosnien.

Für oder gegen Serbien. Da wird dann alles mögliche bemüht, die Geschichte des deutschen Pazifismus, die besondere Verantwortung der Deutschen auf dem Balkan, der unübersichtliche Religionskrieg – alles wichtig, aber am Kern vorbei. All diese Bedenken haben nur ein Resultat: Bloß nicht Partei ergreifen müssen.

Für das, was in Bosnien seit April 1992 passiert ist, gibt es eine klare Bestimmung des Völkerrechts, und sie findet sich in unserem Strafgesetzbuch. Es geht nicht um die Anklage gegen ganze Völker oder Staaten, sondern um die Klage gegen Personen, die sich des Verbrechens „Völkermord“ schuldig gemacht haben.

Im deutschen Strafgesetzbuch gibt es einen nahezu unbekannten Paragraphen: §220a. Er definiert Völkermord so: „Wer in der Absicht, eine nationale, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe als ganze oder teilweise zu zerstören, Mitglieder der Gruppe tötet, Mitgliedern der Gruppe schwere körperliche oder seelische Schäden zufügt, die Gruppe unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, deren körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen (...), wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.“ Der deutsche Gesetzestext hat 1954 die Bestimmungen der Antivölkermordkonvention von 1948 übernommen.

Ich habe in der taz im Juli 1992 die serbisch-jugoslawische Armee für solche Völkermordhandlungen verantwortlich gemacht (und auch kroatische Gewalt kritisiert, durch die Serben umgebracht und vertrieben wurden).

Mein Kollege Peter Glotz will den Begriff Völkermord, angewandt auf das ehemalige Jugoslawien, nicht gelten lassen. In der neuesten Ausgabe des „Spiegel“ schreibt er: „Man verharmlost Hitlers Versuch, die Juden oder die Sinti und Roma von der Erde zu vertilgen, wenn man die Greuel, die der schwächsten der drei Volksgruppen in einem ethno-nationalistischen Krieg angetan werden, auf die gleiche Stufe stellt wie Auschwitz.“ Das ist sein Argument. Ich bin ganz anderer Meinung.

Die Völkermord-Konvention, die ohne Auschwitz und die Nürnberger Prozesse nie auch nur gedacht worden wäre, hat von Anfang an anders argumentiert als Glotz: Um künftigen Genozid zu verhindern, müssen auch dessen Anfänge gekennzeichnet und sanktioniert werden. Auschwitz verpflichtet uns auch, Handlungen ernst zu nehmen, die Angehörige von Volksgruppen ermorden, um den Rest durch Terror in die Flucht zu jagen.

Für diesen Terror hat Peter Glotz den Begriff des ethno-nationalistischen Krieges. Ihn gibt es nicht im Völkerrecht. Er ist sehr problematisch, weil er sofort alle, Opfer wie Täter, als Ethno-Kombattanten einstuft. Denn sie befinden sich nun mal im ethno-nationalistischen Krieg. Und da weiß man nie, wer angefangen hat. Oder doch?

Glotz geht aber einen Schritt weiter; er fordert das Eingreifen der Deutschen im Fall des „Ausrottungskriegs“: „Wer der Ausrottung eines anderen Volkes tatenlos zusieht, verwirkt seine Rechte.“

Was aber ist Ausrottung? Wann fängt sie an? Wenn viele, die meisten oder alle tot sind?

Im Juli 1992, also ganz Anfang des Terrors, schrieb ich in der taz: „Am Samstag, dem 16. Mai 1992, kamen in das kleine bosnische Dorf Zaklopaca morgens um 4.00 Uhr serbische Reservisten. Sie umstellten das Dorf und warteten bis 5 Uhr nachmittags. Zu den Reservisten hatten sich etwa 50 serbische Tschetniks gesellt, viele von ihnen maskiert (...). Am Abend des 16.Mai gab es keinen Menschen islamischer Herkunft mehr im Dorf. Alle waren getötet, oder in die Flucht gejagt: Anfang Juni kamen 50 Frauen und Kinder – kein einziger Mann hat überlebt – in Zagreb an. Sie sind die Zeugen dieses Massakers. Des einen Massakers im Dorf Zaklopaca. Es gibt inzwischen viele hundert Zaklopacas in Bosnien.“

Nach Schätzungen der Bosnier sind bereits 130.000 muslimische Bosnier umgebracht worden. Mehr als anderthalb Millionen Bosnier sind aus ihren Häusern, ihren Dörfern und Städten vertrieben worden. Vertreibungsterror ist die Regel geworden. Der Rest der Bosnier soll durch militärische Einkesselung ausgehungert werden. Gnädig werden Hilfslieferungen durchgelassen, damit auch Nahrung an die Einkesseler gelangt. Wie sähe das Schicksal der Muslime eigentlich aus, wenn es keine Hilfe von außen gäbe? Dürften wir, was dann passiert, dann auch nicht Ausrottung nennen? Ist es Völkermord, wenn den Menschen muslimischer Herkunft das Leben in Bosnien ein für alle Mal unmöglich gemacht werden sollte? Wo sie entweder in den Tod oder in die Flucht gequält werden sollen.

Wir müssen die Völkermordkonvention dann anwenden, wenn das geschieht, was sie meint: Vertreibung, Ausrottung, Genozid. Es wäre der äußerste Zynismus der UNO, wenn sie ihre Stunde erst dann für gekommen hielte, wenn die völlige Vertreibung, die völlige Ausrottung, der vollendete Genozid besiegelt ist. Es gibt eine Pflicht, den versuchten Mord zu verhindern, das gilt auch für den versuchten Völkermord.

Die Glotzsche Konsequenz aus dem Verbrechen von Auschwitz habe ich immer als die schrecklichste empfunden: daß nämlich die Einmaligkeit des Holocaust alle nachfolgenden als „Post- Auschwitz-Untaten“ relativiert. Das hat mich umgetrieben bei dem Massenmorden in Kambodscha, bei dem Terror in Osttimor, bei den Indianermorden in Nord-Guatemala, das treibt mich um bei der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Volksgruppe der Muslime im ehemaligen Jugoslawien. Freimut Duve

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