■ Anarchy in the UK: Totale Tomatonie am „Red Nose Day“
: Die Invasion der Spenden-Tomaten

London (taz) – Ein geheimnisvolles Phänomen läßt die britischen Inseln kapitulieren: die Invasion der roten Tomate. Seit Wochen verbreiten sich die überreifen, roten Früchtchen gnadenlos über das ganze Land – kleben von außen an Fensterscheiben, entfalten sich angeklatscht an den Türen vornehmster Häuser oder zieren im eigenen Saft schmorend fast jeden Auto-Kühlergrill.

Heute – das wissen die BritInnen – wird der rote Spuk seinen Höhepunkt erreichen. Wer dann als FremdeR das Königreich besucht, sollte sich lieber auch eine Tomate über die Nase stülpen, um nicht unangenehm als AußenseiterIn aufzufallen. Stolz trägt dann nämlich jedeR BürgerIn einen eigenen Paradiesapfel über dem Zinken und gibt damit zu verstehen: Ich habe mich auch ergeben – im Namen der Tomate.

Niemand wundert sich, wenn die Verkäuferin hinter der Ladentheke für einen ganzen Tag jeden Satz mit dem magischen Wort „Tomate“ abschließt oder aus jeder Hecke kleine knollennasige Rambos springen, die Passanten aus präparierten Plastik-Tomaten mit Ketchup beschießen.

Nun gut, für ihren eigenwilligen Geschmack sind die BritInnen bekannt, doch die Tomatonie hat damit nichts zu tun. Hinter den roten Nasen verbirgt sich nämlich ein Projekt, das auf humorvolle Weise Spenden sammelt: „Comic Relief“, Komische Unterstützung, so nennt sich der Wohltätigkeitsverein, der dem Inselvok nun schon seit 1985 zeigt, wie lustig es sein kann zu spenden. Rund 75 Millionen Pfund haben die freiwilligen HelferInnen Leuten, die gern lachen, seitdem schon duch unzählige komische Aktionen entlockt, und Millionen von Tomaten haben inzwischen ihren Platz auf Nasen, Türen oder Autos gefunden. Ihr Verkaufserlös fließt bis auf den letzten Pence in verschiedenste Hilfsprojekte – ein Drittel des Geldes bleibt in Großbritannien, der Rest geht in die Entwicklungshilfe nach Afrika. Zum vierten Mal nun gipfelt diese komische Volksspendenaktion, die inzwischen zum Medienspektakel geworden ist, im „Red Nose Day“, dem Tag der roten Nasen.

Den 12. März, den die BBC sogar mit einem kompletten Comedy-Fernsehprogramm begleitet, nimmt das ganze Inselvolk jedesmal zum Anlaß, sich mit den verrücktesten Sachen öffentlichkeitswirksam an der Aktion zu beteiligen. Das Motto „Am Red Nose Day ist alles erlaubt“ lockt dann selbst die schüchternsten und prüdesten BritInnen aus der Reserve. So zog es etwa schon SkifahrerInnen auf die Piste, die sich dafür bezahlen ließen, daß sie nur mit einer Tomate „bekleidet“ waren. Andere zogen es vor, auf einer Straßenkreuzung in ein Faß voller Haferbrei zu tauchen oder sich ins Bratensoßen-Vollbad im eigenen Vorgarten zu legen – mit Tomate, versteht sich. 15.000 Privatleute oder Gruppen haben „Comic Relief“ auch in diesem Jahr ihre Unterstützung zugesagt. Wenn sie auf ihre Weise dazu beitragen, die Spendendosen zu füllen, muß der gute Ruf der Tomate landesweit wieder für alles mögliche herhalten. Geschäftsleute und Verein locken mit Aktionen wie Unterwasser-Dinners oder Tomatenschlachten, ganze Schulen halten ihren Unterricht in Tomatenkostümen ab, und jedeR einzelne darf wieder für einen Tag die Tomate rauslassen. Für den einen bedeutet das, als Huhn verkleidet zur Arbeit zu gehen, für die andere, sich als singende Tomate an die nächste Straßenecke zu stellen – und das alles für einen guten Zweck.

Nicht nur Tomatenkönigin Elizabeth – auch Ketchupindustrie und GemüsehändlerInnen werden die Hilfsbereitschaft in ihrem Lande mit Freude zur Kenntnis nehmen. Antje Passenheim