■ Mülheim-Kärlich als Prüfstein für den Energiekonsens: Genehmigung oder Konsens
Die Mühsal des energiepolitischen Alltags ist zurück. Im Neuwieder Becken findet der allseits beschworene „gesellschaftliche Konsens“ für eine andere Energiezukunft vorerst nicht statt. Die Gutachter der Kontrahenten werden nicht im gelassenen Diskurs die Erdbebengefährdung des RWE-Kraftwerks Mülheim-Kärlich unter die Lupe nehmen. Sie werden auch nicht in trauter Runde die Frage diskutieren, warum ein technisch veralteter Atomreaktor erneut ans Netz soll, obwohl ihn in den vergangenen viereinhalb Jahren niemand vermißte. Friedhelm Gieske, RWE-Chef, wird sich wohl auch nicht mit den besorgten Anwohnern zusammensetzen. Sonst müßte er ihnen erklären, warum das „geordnete Auslaufen der heute genutzten Leichtwasserreaktoren“, über das er kürzlich so gern gemeinsam mit dem Bundeskanzler nachsinnen wollte, ausgerechnet mit der Wiederinbetriebnahme eines ebensolchen Meilers beginnen soll.
Die RWE Energie AG hat nach dem gestrigen Spruch des Bundesverwaltungsgerichts keinen Zweifel aufkommen lassen, daß die atomare Kettenreaktion in Mülheim-Kärlich nun so schnell wie irgend möglich reaktiviert werden soll. Weder wollen die RWE-Oberen die anstehenden Gerichtsverfahren abwarten noch die Verhandlungen zum Energiekonsens. Es ist ein Affront, und er hat Methode. Ein zusätzliches AKW mit rechtsgültiger Genehmigung bedeutet eine zusätzliche Karte im Verhandlungspoker. In diesem Fall eine außergewöhnlich gewichtige. Den Herren der Essener Konzernzentrale ist nicht entgangen, daß ihr Altmeiler Biblis A im rot-grünen Hessen auf wackligem Terrain steht. Und daß dieses Kraftwerk – möglicherweise zum Nachweis nuklearer Konzessionsbereitschaft der Stromkonzerne – in naher Zukunft zur Disposition steht. Der vorgesehene Ersatz ist nicht fossil, erst recht nicht regenerativ, er ist nuklear und steht im Neuwieder Becken.
Rudolf Scharping, Pfälzer SPD-Provinzfürst mit bundespolitischen Ambitionen, wird jetzt darüber zu entscheiden haben, ob die Mülheim-Kärlich-Karte sticht. Nicht nur seine persönliche atompolitische Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel, sondern auch die der SPD. Sollte in einem sozialdemokratisch geführten Land während der Konsensverhandlungen ein Atomkraftwerk in Betrieb gehen, wird es einen gesellschaftlichen Konsens nicht geben. Und umgekehrt: Sollten die Konsensbemühungen zu einem wie auch immer gearteten Ergebnis führen, läuten für den RWE-Reaktor endgültig die Totenglocken. Man wird sich daran gewöhnen müssen: Solange in Bonn über den Energiekonsens verhandelt wird, darf es atomrechtliche Genehmigungen nicht geben. In Mülheim- Kärlich nicht und auch nicht anderswo. Gerd Rosenkranz
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