■ Nach der Niederlage Jelzins im Volksdeputiertenkongreß: Die heuchlerischen Verfassungshüter
Verfassungsfragen sind Machtfragen. Die jüngste Debatte des russischen Volksdeputiertenkongresses handelte nicht von der Grundsatzfrage, welches Verfassungsmodell den Bedürfnissen Rußlands angemessener wäre, das präsidiale oder das parlamentarische. In der Auseinandersetzung zwischen Jelzin und der Mehrheit des Kongresses konzentrierte sich ein Machtkampf, bei dem es letztlich um das Überleben einer nur angeschlagenen, aber keineswegs besiegten Machtelite ging: der alten sowjetischen Nomenklatura. Es ist dieser Machtblock, der seine soziale Position gesichert hat, indem er Jelzins Projekt eines Verfassungs-Referendums scheitern ließ.
Seit der Auflösung der Sowjetunion sind in das alte demokratisch-zentralistische System des Staatsaufbaus tiefe Breschen geschlagen worden. Unter dem Druck der Volksbewegung verabschiedete der russische Deputiertenkongreß die Deklaration der Bürger- und Menschenrechte und schuf die Grundlagen für eine unabhängige Justiz. Mit dem Bundesvertrag vom März 1992 schließlich wurden die Umrisse eines föderalen Verfassungssystems gelegt. Der Kongreß selbst aber hielt trotz aller Abstriche an einem Prinzip fest, das mit dem Aufbau des Verfassungsstaats schlechterdings unvereinbar ist: dem der Fusion der Gewalten. In der sowjetischen Staatstheorie galten die Sowjets, obwohl sie in der Praxis vollständig von den Weisungen der Parteihierarchie abhängig waren, als alleiniger Sitz der Volkssouveränität. Paradoxerweise nehmen jetzt die Abgeordneten des Kongresses, die ihr Amt nicht einmal einer freien Wahl verdanken, diese Verfassungs-Fiktion aus sowjetischer Zeit in Anspruch. Der Kongreß, dessen Vorsitzender Chasbulatow seit 1991 einen Apparat von den Ausmaßen einer Nebenregierung aufgebaut hat, beansprucht die Exekutivgewalt in gewichtigen Fragen der Geld und Finanzpolitik, er hat sogar versucht, sich eine Art Prätorianer-Garde zu unterstellen.
Nach der Niederschlagung des Putschs vom August 1991 begingen die Demokraten den folgenreichen Fehler, den Deputiertenkongreß bestehen zu lassen. Die Auflösung dieses Gremiums und die Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung hätte sich auf eine überwältigende demokratisch-revolutionäre Legitimation stützen können. Jetzt ist es zu spät für eine solche Aktion, und nach der geltenden Verfassung steht dem Präsidenten ein Auflösungsrecht nicht zu. Nach der Ablehnung seines Referendums-Projekts durch den Kongreß kann der Präsident auch nicht an der Legislative vorbei sich direkt ans Volk wenden, damit dieses über die Machtverteilung zwischen ihm und dem Kongreß entscheide. Das Spiel mit der Proklamation des Notstands aber schadet nur dem demokratischen Ansehen des Präsidenten, ohne seine Widersacher zu beeindrucken. So bleibt Jelzin nur das optimistische Lenin-Wort, nach dem Kompromiß nicht gleich Kompromiß ist und Niederlage nicht gleich Niederlage. Christian Semler
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