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Chauvi-Gesten und Wollust

■ Gelungene Wiederaufnahmepremiere von Slawomir Mrozeks "Emigranten" auf Kampnagel

auf Kampnagel

Zwei Pritschen, zwei Koffer, zwei Stühle, ein Tisch. Von oben eine nackte Glühbirne, sonst nichts. Hier muß das nackte Flüchtlingselend sitzen. Sitzt es aber nicht. Stattdessen räkelt sich Wollust auf dem Tisch. Von Bier und der schönen Frau aus dem

1Schlafwagen erzählt der polnische Emigrant XX mit potenten Chauvi- Gesten. Sie ist ihm nachgelaufen bis auf die Toilette und da ... demonstrativ fickt XX den harten Holztisch. XX ist ein Triebmensch.

AA ist ein Kopfmensch. Er weiß, wie die Geschichte wirklich war:

1sowohl die vom Bahnhof als auch die ihres Landes. Diktatur, Emigration und die Erfahrung des Fremdseins haben ihm die Illusionen genommen. „Wann“, fragt er seinen Zimmergenossen mit aggressiv ungläubiger Verzweiflung, „wirst du endlich Ordnung, Disziplin und Realität lernen?“

Die beiden Flüchtlinge umkreisen sich wie Hunde mit aufgestelltem Nackenhaar und eingeklemmtem Schwanz. Sie bellen sich an und verbeißen sich ineinander. Ein Hundeleben im Zimmer unterm Treppenabsatz, das der Proletarier und der Intellektuelle teilen. Was die Antipoden zusammenhält, enthüllt sich erst im Verlauf des Abends: ein empfindliches Gleichgewicht der gegenseitigen Ausbeutung.

XX, der Polen aus wirtschaftlichen Gründen verließ und im Exil jeden Pfennig hortet für den Tag X seiner grandiosen Heimkehr, will sich bei AA schlicht durchfressen. Dieser, der aus politischen Gründen exilierte und nicht zurückkehren kann, sucht beim Arbeiter Absolution. Eine Flasche Wodka bringt es an den Tag: „Ich trinke um zu büßen. Die Nationalsünde, daß meine und deine Vorfahren nie miteinander getrunken haben.“

Autor Slawomir Mrozek weiß, wovon er spricht. Er selbst verließ Polen 1968 aus Protest gegen die Prager Okkupation und emigrierte nach Paris. Auch für die Schauspieler Henryk Nolewajka (AA) und Marek Wlodarczyk (XX) ist Emigration ein Stück eigene Geschichte: Beide sind 1981 in die Bundesrepublik übergesiedelt.

Trotzdem oder gerade deshalb sind Stück und Inszenierung frei von Pathos und Selbstmitleid. Mit Ganzkörpereinsatz und doch ironischer Distanzierung entsteht eine Art psychologisch-realistischer Kammersatire. Die Premiere der Inszenierung von Mikolaj Grabowski wurde schon 1989 von Kritik und Publikum einstimmig gefeiert. Erneutes Hinschauen lohnt mit einem um vier Jahre deutscher Geschichte erweiterten Blick: Da stellen sich auch dem Zuschauer die Nackenhaare auf, wenn AA von der „Summe der Freiheit in einer Person“ spricht und Kaiser Nero meint, der aus Langeweile eine Stadt in Brand setzte. „Ich trinke auf alle,“ prostet AA bitter ins Publikum, „die nicht das Privileg haben, sich selbst anzuzünden.“ Christiane Kühl

Heute und morgen, Kampnagel, Halle 1, 20.30 Uhr

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