: Sortiert wird nicht
Gediegene Halbbildung oder authentische Postmoderne? Holbeins „vollbesetzte Bildungslücke“ ■ Von Martin Krumbholz
Sind Sie auch mit Kaba und Rama aufgewachsen, mit Omo und Odol, mit Ajax und Ariel, mit Meister Proper und Mary Poppins, mit Dick und Doof, mit Lupo und Micky Maus, mit Mars und Milky Way, mit Lassie und Fury, mit 007 und 4711, mit Asbach Uralt und Klosterfrau Melissengeist, mit Jim Knopf und Jeremias Schrumpelhut? Sind Sie in den frühen Sechzigern volksschulmäßig sozialisiert worden, später vom humanistischen Gymnasium geflogen und wiederholt durchs Abitur gefallen? Ja? Dann sind Sie hier richtig! Also: kopfüber in die vollbesetzte Bildungslücke!
Aber aufgepaßt: Es wird eng. Die Holbeinsche Bildungslücke ist nämlich anders definiert als die landläufige. Es handelt sich nicht um irgendeine banale Lücke in der Bildung, sondern: Wo bei Hinz und Kunz die humanistische Bildung aus dem Trichter fällt, befindet sich im Holbeinschen System zunächst ein komplettes Vakuum. Doch dieses Vakuum bleibt beileibe nicht Nichts – im Gegenteil: Es ist bis zum Rand und darüber hinaus angefüllt mit dem, wovon eingangs die Rede war, mit den unzähligen denkwürdigen Mythen einer ganz durchschnittlichen (klein)bürgerlichen Wirtschaftswunderkinderstube. Seite um Seite seines schmalen Büchleins memoriert Holbein, was ihm damals so begegnet ist und was ihn – wie er glaubwürdig versichert – nachhaltiger sozialisiert hat, als Goethe und Schiller, Mozart und antiker Mythos es je vermocht hätten. „Nie stammte Kunst von Vincent van Gogh, sondern höchstenfalls von Maler Klecksel.“ Aber ist das ein Schaden? Heino und Heintje ersetzten langfristig und mühelos Heinreich Heine und von Ofterdingen. „Meine geistige Heimat, auffindbar irgendwo zwischen Entenhausen, Murkelei und Lummerland, bestand aus einer einzigen unermeßlichen Bildungslücke – aber dennoch hat sich Bolle ganz köstlich amüsiert. Denn innerhalb ihrer klaffenden Weiten quälte weit und breit kein weißes Loch.“
Übrigens besteht vom Gehirnvorgang her, das beruhigt uns denn doch, kein qualitativer Unterschied zwischen dem Lesen der Iphigenie und dem Glotzen von AktenzeichenXY. „Beide Male wird dem Gesamtspektrum der Außenwelt ein Info-Paket entnommen, Namen werden gespeichert, memorielle Engramme erstellt, mit den Aufschriften Orest, Peter Hohl, König Thoas, Werner Vetterli, die Möglichkeit des Rückgriffs per Abrufsystem freigehalten.
Holbein ist ein Welt- oder zumindest Deutscher Meister der geistreichen Endlos-Paraphrase. Elegant hüpft er von Becketts „Wie lautet noch die unvergeßliche Zeile?“ („Glückliche Tage“) auf Zäpfel Kerns „Rot und grün und gelb und blau/ Wirst du, wenn ich dich verhau!“ Na klar, dieser Holbeinsche Mythenmixer ist ein authentisches Kind der Postmoderne. Sortiert wird nicht – es sei denn mittels der normativen Kraft des Langzeitgedächtnisses, in dem eben Reinhold das Nashorn unvergleichlich glänzender dasteht als Alf und Ottifant aus der Sesamstraße.
Aber was für eine Peripetie: Irgendwann fällt das wunderbar ignorante Erzähler-Ich dieses autobiographischen Essays dann doch um. Es mag nicht vom Leben mit der Isolationshaft der Unbildung dafür bestraft werden, daß es ein paarmal zu spät in die erste Stunde kam. Es will wissen, daß man Flaubert Flohbär ausspricht und nicht wie einen flauen Herbert; daß der Wunsch „Mehr Licht!“ von Goethe stammt, der Ausruf „Weniger Goethe!“ indes von Arno Schmidt. Wie das beginnen? Geht man systematisch vor – beispielsweise mittels der vierbändigen Volksausgabe des Meyer-Lexikons –, weiß man bald sehr viel über Aachen und über Aale; aber cui bono? (Haben Sie gewußt, daß die Aalnachfrage nach Erscheinen der „Blechtrommel“ von Günter Grass kurzfristig nachließ?) Was diese äußerst mühsame und zeitraubende Verfahrensweise hervorbringt, ist bestenfalls jene gediegene Halbbildung, von der Theo Adorno meinte, sie sei suspekter noch als die schiere Unbildung. „Der Halbgebildete hält atomistisch die Teile in der Hand, verdinglicht sie eifrig, irgendwie fehlt das geistige Band, und niemand kann es verhindern, daß das geistige Band, falls wider Erwarten doch irgendwie vorhanden, seinerseits unverzüglich in eine Zwangsjacke sich verwandelt, oder so ähnlich, falls ich da Adorno richtig verstanden haben.“ Das ist nun fast schon das Ende vom Lied: Vom Meyer-Lexikon springt das Erzähler-Ich über alle Autoren, die mit A anfangen, hin zu Hermann Hesses Gesamtwerk, und so geht dieser kleine Unbildungsroman herzlich schlecht aus – er feiert die Genese eines deutschen Autors, der virtuos die Bildung gegen die Lücke ausspielt (und umgekehrt) und der schließlich so entschieden gelehrte Büchlein verfassen kann wie „Die vollbesetzte Bildungslücke“...
...wenn auch mit rührenden Fehlerchen: Es mag ja sein, daß die optische Konstellation Kohl/ Schäuble dem mythischen Schema Riese/Zwerg verpflichtet ist; aber den Vornamen des Riesen hat der Zwerg nun doch nicht plagiiert, der Zwerg heißt stur und eigensinnig Wolfgang! Heilandzack, schreiben Sie sich das hinter die Ohren, Sie Autor, Sie!
Aber nimmt so ein Lapsus wunder bei einem, der mit Schopenhauer Zeitungen bloß für die Sekundenzeiger der Weltgeschichte hält, die praktisch immer falsch gehen, der sich folglich mit Kants Idealität der Zeit beschäftigt hat, statt die Zeit zu abonnieren?
Ulrich Holbein: „Die vollbesetzte Bildungslücke“, Claassen Verlag, Hildesheim 1993, 71 Seiten, 22DM.
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