piwik no script img

Der Virus wird dich besser machen

Cyril Collards Aids-Film „Wilde Nächte“ hat angeblich in drei Monaten in Frankreich mehr bewirkt als alle Informationskampagnen in sechs Jahren  ■ Aus Paris Marie-Elisabeth Rouchy

Man muß sich die schöne Begeisterung ansehen, mit der junge und weniger junge Leute miteinander an den Kinoausgängen von Cyril Collards erstem und letztem Film „Wilde Nächte“ sprachen. Die Liebesgeschichten von Jean, der bisexuell und HIV-positiv ist, von Laura und von Samy haben das Publikum mehr berührt als irgendein anderer Film des vergangenen Jahres. Wegen seiner Geschwindigkeit (Jean dabei zuzugucken, wie er durch die Straßen von Paris rennt, als falle er in ein offenes Grab – das ließ an Cassavetes denken); wegen der Gewalt des Liebesdiskurses – Laura, Jean und Samy, die sich verwunden; wegen der wilden, harten Inszenierung ohne Konzessionen.

Das Thema traf einen Nerv. Daß ein Film Aids zeigt, ohne darum viel Aufhebens zu machen, hat alle seltsam berührt. Bisher hatte das Kino nur metaphorisch von Aids zu sprechen gewagt: Es erschien als Pest in dem Film von Luis Puenzo, als Krieg und Nazismus in „Merci la vie“ von Bertrand Blier oder mit den Zügen einer unerträglichen Tragödie in „La Pudeur ou l'impudeur“ von Herve Guibert.

In „Wilde Nächte“ sagt Aids ganz einfach seinen Namen. Und das ändert alles. „Das Unglaubliche ist, daß Jean wie alle anderen Leute lebt“, sagt Jérôme, 19 Jahre alt. „Er ist positiv, aber das hindert ihn nicht daran, auszugehen, zu lachen, Blödsinn zu machen und zu leben. Es würde ihm fast helfen: Am Ende des Films, als er den Typ von der Front Nationale bedroht, wird er ein Held.“ – „So ein Film tut gut, weil er zeigt, wie die Werte und die Geschlechterordnung in der heutigen Gesellschaft durcheinandergeraten. Er entdramatisiert diese Krankheit, er zeigt, daß wir irgendwie mit ihr leben müssen“, sagt Cecile, 22 Jahre alt, Studentin. Die Wahrheit und Komplexität der Gefühle, das hat die jungen Leute an diesem Film am meisten berührt, aber auch die Erwachsenen. Daß Claude Winter, die Mutter von Jean, zu ihrem Sohn sagt, „dieser Virus wird dich vielleicht besser machen“, hat viele nachdenklich gestimmt. Plötzlich war der Virus nicht mehr nur eine Bedrohung, sondern auch, möglicherweise, Zeichen einer kommenden Besserung. Als helfe er uns, zu leben und uns besser zu verstehen. Als werde Solidarität möglich...

Natürlich gibt es Stimmen, die den Film verurteilen. Jeans Bisexualität und seine heimlichen Liebesabenteuer auf den Quais haben viele schockiert. Daß Jean mit Laura schläft, ohne ihr zu sagen, daß er positiv ist, und daß sie sich weigert, ein Kondom zu benutzen, als sie es schließlich erfährt, hat einige entsetzt. Zu Recht. Aber auf einmal hat alle Welt angefangen, über diese bis dahin tabuisierten Themen zu reden.

Seien wir ehrlich: Innerhalb von drei Monaten hat „Wilde Nächte“ uns mehr über die Krankheit nachdenken lassen als irgendeine Kampagne in den sechs Jahren vorher. Kein Wunder also, daß hiesige Aids-Hilfen die „Wilden Nächte“ benutzen, um die Diskussionen voranzutreiben. Das ist langsam gekommen, vor allem in den Gymnasien. Schuldirektoren zeigen heute den Film vor ihren elften und zwölften Klassen, meistens gratis, manchmal mit einer kleinen Beteiligung von zehn Francs, immer proppenvoll. „Dank des Films“, sagt Didier Jayle, Vorsitzender von „Crips“, einem regionalen Aidszentrum, „stellt man uns Fragen, die uns vorher niemals gestellt wurden: beispielsweise warum Laura nicht angesteckt würde? Viele glauben, daß man sich automatisch ansteckt. Warum ist Jean bisexuell? Bisexualität ist ein Thema, mit dem die Jüngeren bisher Schwierigkeiten hatten. Sie wissen, daß die Geschichte von Collard autobiographisch ist, und das berührt sie.“

Jean-Marc Priez von „Aides“ geht sogar noch weiter: „Prävention, das bedeutet nicht nur, die Jugendlichen davon zu überzeugen, unbedingt ein Kondom zu benutzen, sondern auch, ihnen die Möglichkeit zu geben, über Verlangen und Lust nachzudenken – ihre Sexualerziehung beschränkt sich sonst oft auf einen Kurs über Fortpflanzung. Unsere Aufgabe ist es, sie dazu zu bringen, Verantwortung auf sich zu nehmen. Der Film von Collard bringt ein schönes Problem mit sich: Seine Helden durchkreuzen die Botschaften der Prävention.“

Während der Veranstaltung „Etats Generaux du sida“ vor zwei Jahren wurde ein Video mit Aussagen einer jungen HIV-positiven Frau aufgezeichnet. Sie erzählt, daß sie ihre Partner immer vor ihrem Zustand warne – außer wenn sie verliebt sei. „Dann“, meint sie, „sage ich nichts und treffe keine Schutzmaßnahmen.“ So vorgebracht, war die Aussage nur schwer für ein junges Publikum zu verwenden: zu schonungslos und vor allem zu hoffnungslos. Obwohl die Spezialisten der Prävention immer schon wußten, daß die Leute sich mit dem Schutz am schwersten tun, wenn sie verliebt sind. „Wilde Nächte“ erzählt nichts anderes. „Warum hast du mir nicht gesagt, daß du positiv bist?“ fragt Laura Jean. „Weil ich dachte, daß dir nichts passieren könne“, antwortet er.

„Der Unterschied zu dem, was die junge Frau sagt“, meint Benoit Felix von Crips, „ist, daß Jean sich am Ende verändert hat: Er ist es, der Samy dazu bringt, eine Kapuze drüberzutun. Er ist verantwortlich geworden. Das ist das Entscheidende. Das ändert alles. Und dann sind da die Gespräche zwischen Jean, Laura und Samy. Sie kommen uns bekannt vor: Alltagswörter, nicht immer fein, bißchen unanständig. Wörter, die sitzen, in allen Farben.“ Die Behördensprache langweilt Jugendliche bekanntermaßen. 1986 war der beste „Spot“ über die Prävention eine Szene aus dem Film „Mauvais Sang“ von Leos Carax, eine wunderbare Sequenz über das Präservativ. „Lustig, erstaunlich, hat sie am Ende Lust gemacht, so ein Ding zu benutzen!“ erinnert sich Felix.

Das Kino hilft der Prävention? Die Idee ist nicht neu. Aber sie kam weder von Produzenten (die sich bisher systematisch den Aids- Szenarios verschlossen haben) noch von Schauspielern (die sich ebenfalls weigerten, sich damit auseinanderzusetzen). Filme im Sinne der Jugendlichen sind „La Lézarde“ und „Joli Coeur“, zwei wunderbare Kurzfilme, die die Crips gemacht hat, ausgehend von einem Drehbuchwettbewerb für 15- bis 20jährige. Es gibt auch einige Kurzfilme – zum Beispiel „Fait divers“ des Belgiers Quentin Van de Velde, der von der Ansteckung einer Frau durch einen Bisexuellen erzählt – und Untergrund- Filme: „Acid filmda“ von Metamkine entstand, wie sein Autor sagt, „indem wir den Film mit Viren attackiert“, das heißt, Säure auf das Celluloid gegossen haben.

Die Ministerien fördern und zensieren Produktionen von Filmemachern der „Vereinigung Positiv“, die von Aids betroffen sind. Diese Filme aber werden nur von Leuten angeschaut, die selbst von dem Problem tangiert sind.

Als der Film rauskam, wollte Collard Aids im übrigen nicht in den Vordergrund stellen. „Ich wollte nur eine Geschichte erzählen und der Ästhetik des französischen Kinos, die ich nicht mag, ein paar Tritte versetzen. Dazu habe ich Verbote benutzt.“ In Interviews allerdings steht die Tatsache, daß er positiv ist, dann doch im Vordergrund. Er beantwortet die Fragen, ohne Beschönigung. Drei Monate später hatten sich die Dinge auch für ihn verändert. „Ich habe das Gefühl, daß der Film alles ein bißchen in Unordnung bringt. Das ist der Beweis dafür, daß es etwas bewegt, Wahrheiten zu zeigen. Heute akzeptiere ich, mit Initiativen zur Prävention zusammenzuarbeiten. Bis vor kurzem habe ich mich dem absolut verweigert.“ Das erstaunlichste ist, daß die, die sich zunächst geweigert hatten, den Film zu unterstützen, ihn heute wohlwollend anschauen: allen voran die AFLS, die „Französische Vereinigung im Kampf gegen Aids“. Der einzige Stolz von AFLS: „L' Héritière“, ein letztes Jahr von TF1 coproduzierter Fernsehfilm. Als ihr Mann stirbt, Bürgermeister einer kleinen Stadt, erfährt seine Ehefrau, daß er Aids hatte. Sie läßt einen Test machen, erfährt, daß sie negativ ist, aber kämpft mit der Geliebten ihres Mannes gegen die Unachtsamkeit der Puristen, derjenigen, die Safer Sex ablehnen... „Wir wollten die Leute auf die Ansteckungsgefahren zwischen Heterosexuellen aufmerksam machen“, sagt Marc Enguenot-Franchekin, „und die Schwierigkeiten der Verstrickung in einem kleinen Ort aufzeigen.“ Wer ausreichend gehört wird, wird selten rückfällig. „Man kann nicht viel in Gang bringen, wenn man immer nur die ratsamen Vorsichtsmaßnahmen predigt und die gesellschaftlichen Moralkodizes respektiert“, meint Enguenot-Franchekin. Bei AFLS ist man oft darauf beschränkt, Allgemeinheiten zu verbreiten, die letztlich niemanden sensibilisieren. Die Position der Organisation ist brenzlig: Auf der einen Seite ist es unmöglich, die Wirkung des Kinos auf das breite Publikum zu leugnen, auf der anderen unmöglich, Szenen durchgehen zu lassen, die in ihren Augen zur Desinformation führen: „Wenn Jean einen Lepenisten bedroht, indem er sich in die Hand schneidet, dann ist das romanreif, aber falsch“, sagt Enguenot-Franchekin. „Man kann Aids nicht auf diese Weise angehen.“ Dennoch hat gerade diese Szene viele Leute dazu gebracht, sich für Aids-Filme zu interessieren.

Denn sie kommen, die Filme! „Peter's Friend“ von Kenneth Branagh; „Mensonge“ von François Margolin. Der erste beschreibt die Solidarität einer Gruppe von Freunden um einen HIV-Positiven. Der zweite erzählt die Geschichte einer Frau, die erfährt, daß sie positiv ist, als sie einen Schwangerschaftstest machen läßt. Gleichzeitig entdeckt sie die Bisexualität ihres Mannes. Ein Film über die Toleranz: noch einer über ein Tabuthema, der schreiende Reaktionen auslösen müßte. Denn wenn er die Bisexualität verheirateter Männer in Angriff nimmt, hat Margolin ebenfalls einen Nerv der Zeit getroffen. „Mensonge“ ist ein Film über das Mißtrauen: Mißtrauen gegenüber uninteressierten Ärzten; gegenüber Freunden, die sich entziehen; und gegenüber dem heuchelnden Paar. Womit man eine ganze Generation alarmiert...Die AFLS betrachtet „Mensonge“ mit Interesse. Seit Monaten versucht die Vereinigung eine Kampagne eben zum Thema bisexueller verheirateter Männer in England zu verbreiten. Sie zeigt zwei Männerhände, die sich berühren; eine davon trägt einen Ehering. Aber der Gesundheitsminister hat sich der Verbreitung entgegengestellt.

Überall in der Welt mobilisieren sich die Filmemacher zum Thema Aids: Xavier Beauvois in Frankreich, Terence Davies in England, Jane Campion in Australien, Idrissa Ouedraogo in Burkina Faso, Gus Van Sant und Percy Adlon in den Vereinigten Staaten. Indem ihr Zuschauer euch für „Wilde Nächte“ entschieden habt, habt ihr vielleicht auch die Produzenten überzeugt, Mittel für diese Filme zur Verfügung zu stellen.

Aus dem Französischen von Ina Hartwig

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen