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Am kommenden Sonntag wählen Frankreichs BürgerInnen eine neue Nationalver- sammlung. Das einzige Thema, das im Wahlkampf eine Rolle spielte, war die Arbeitslosigkeit. Und weil die regierenden Sozialisten selbige nicht entschieden bekämpft haben, bekommen sie die Rechnung präsentiert. Aus Paris Bettina Kaps

Strafarbeit auf der Oppositionsbank

Mit seiner grauen Haut und den tiefen Furchen im Gesicht könnte sich Jean- Claude Patout ohne weiteres in den Mittelgang eines Metrowaggons stellen und den Spruch runterleiern: „Entschuldigen Sie, Mesdames et Messieurs, daß ich störe, aber ich habe keine Arbeit und keine Mittel...“ Vor elf Jahren hat der kaufmännische Angestellte seinen Job verloren. Seither schlägt er sich als Straßenhändler durch. Am Betteln und an der Obdachlosigkeit ist der 48jährige gerade noch vorbeigekommen, dank einer kleinen Erbschaft konnte er ein Zimmer mieten – und ein Projekt entwickeln: Patout hat einen „Verein zur Entwicklung von Stellen“ gegründet. Um seine Ideen bekanntzumachen, kandidiert er jetzt im Nordosten von Paris als Unabhängiger bei den Wahlen zur Nationalversammlung.

„Ich habe immer kritisiert, daß die Parteien die Arbeitslosigkeit wie eine Krankheit behandeln und sie lediglich verwalten“, sagt er, während er eiligen Passanten am Metroausgang La Chapelle seine Flugblätter in die Hand drückt. „Deshalb kämpfe ich dafür, daß die Vergessenen der Politik das Wort zurückerhalten.“ Patout kann sich ausdrücken, er deklamiert seine Überzeugungen und verbreitet dabei genausoviel hohles Gerede wie die Politiker, die er so harsch kritisiert. Doch das disqualifiziert ihn nicht, der Mann überzeugt durch seinen Lebensweg und durch sein Gesicht.

Als Nachrückerin hat er seine Freundin Claudine aufgestellt, arbeitslos wie er. Die gesetzlichen Hürden für die Wahlbeteiligung sind nicht hoch: „Ich mußte 50.000 Exemplare meines Wahlprogramms abliefern sowie 110.000 Wahlzettel, die nun vom Staat an alle Wahlberechtigten meines Wahlkreises verschickt werden“, sagt er. Dazu hat er sich noch ein paar gelbe Plakate mit seinem Konterfei in der Ecke und die Flugblätter geleistet – das ganze kostet ihn 8.000 Mark. Für Versammlungen reicht sein Budget allerdings nicht. Anders als seine prominenten Kollegen braucht Patout sich nicht zu sorgen, daß er den neuen gesetzlichen Bestimmungen nicht entsprechen könnte; die schreiben erstmalig eine Obergrenze der Wahlkampfkosten von 150.000 Mark pro Person vor. Der Zwang zur Sparsamkeit und das Verbot von Plakaten auf kommerziellen Werbeflächen sollten den Wahlkampf sauberer machen. So wirkt es auch kaum anachronistisch, wenn Patout die Sperrholztafel mit dem gelben Poster am Abend einfach zusammenklappt und in sein Wahlkampflokal trägt, das zugleich Schlafund Wohnzimmer des Kandidaten und der Nachrückerin ist.

Inhaltlich liegt Patout in diesem Wahlkampf ebenfalls voll im Trend: Arbeitslosigkeit und Vorschläge zur Arbeitsteilung sind das einzige Thema, das in dieser Kampagne eine Rolle gespielt hat. „D'abord l'emploi“, zuerst die Beschäftigung, hieß eine der vielen Versprechungen, mit denen Staatspräsident Mitterrand vor 12 Jahren antrat – doch in seiner Amtszeit schnellte die Zahl der Arbeitslosen auf drei Millionen hoch. Die erschreckenden Zahlen häufen sich: Anfang der Woche gab die Stadt Paris bekannt, daß die Zahl der Sozialhilfeempfänger in der Hauptstadt 1992 um 17 Prozent gestiegen ist; immer mehr von ihnen sind höhere Angestellte ohne Job. Auf die Frage, was die Wähler bewegt, antwortete der Abgeordnete der Sozialisten (PS), Jean-Pierre Chevènement: „die Arbeit, die Arbeit, die Arbeit“.

Die sozialen Errungenschaften, die Zukunft Europas, die Immigration, die Probleme der Bauern – all das ging angesichts der einen Sorge der Franzosen unter. Viele Bürger wollen die Sozialisten vor allem deshalb strafen, weil sie diese Entwicklung in ihren zehn Regierungsjahren nicht entschieden bekämpft haben. Statt dessen hatte der frühere Wirtschaftsminister und heutige Premier Bérégovoy den starken Franc und den Kampf gegen die Inflation zu den wichtigsten Zielen der Regierung gemacht. Hinzu kommt, daß gerade die PS, die die Moral einst so groß geschrieben hatte, in einer Flut von Parteispendenaffären ertrinkt. So gibt es in Frankreich derzeit niemanden, der daran zweifelt, daß das Bündnis aus der gaullistischen RPR unter Jacques Chirac und der liberalkonservativen UDF unter Valéry Giscard d'Estaing die Wahlen haushoch gewinnen und somit die nächste Regierung stellen wird. Als neuer Premierminister wird Ex-Wirtschaftsminister Eduard Balladur gehandelt.

Es spricht für die beiden Umweltparteien „Les Verts“ und „Génération Ecologie“ (GE), daß sie die Hauptsorge der Franzosen als erste aufgegriffen und die Teilung der Arbeitszeit verlangt haben. Dennoch halten viele Wähler den Grünen Antoine Waechter und GE-Chef Brice Lalonde nur in Sachen Umwelt für kompetent. Erst im Februar sprang die PS auf den fahrenden Zug auf: Parteichef Laurent Fabius plädierte für die Viertagewoche, Mitterrand machte sich auf einmal für 35 Stunden stark. Die Konservativen konzentrierten ihr Programm ebenfalls auf Vorschläge zur Arbeitsbeschaffung; dabei lehnen sie eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung ab und befürworten statt dessen eine Senkung der Sozialabgaben. Das ist auch schon die einzige Debatte zwischen rechts und links, die der Wahlkampf hervorgebracht hat.

Nicht nur mit seinem Thema, auch mit der Einzelkandidatur ist Jean-Claude Patout für die Wahl '93 typisch. Noch nie hat es so viele Gruppierungen und Kandidaten gegeben wie in diesem Jahr. Für die 577 Sitze der Nationalversammlung bewerben sich 5.169 Männer und Frauen. Die Zersplitterung ist Ausdruck dafür, daß weder die etablierten Parteien noch die Protestparteien – GE, Die Grünen und die rechte „Front National“ (FN) – den Hoffnungen der Wähler entsprechen. Mit ungeheurer Wut erfüllt jedoch die Öko-Politiker, daß in ganz Frankreich fast tausend Kandidaten mit pseudoökologischen Etiketten antreten und die WählerInnen verwirren. Während eine Gruppe namens „Génération Verte“ als U-Boot der FN gilt, hat das echte grüne Bündnis im immer noch roten Departement Seine-Saint-Denis mit Konkurrenz von links zu kämpfen. Die örtlichen Kandidaten sind überzeugt, daß die neue Gruppe „France Ecologie“ von Kommunisten und Sozialisten allein dazu kreiert wurde, ihnen die Stimmen wegzunehmen, die sie über die 12,5-Prozent-Hürde für den zweiten Wahlgang bringen könnten. Meinungsumfragen geben dem grünen Bündnis jetzt nur noch zwischen 12 und 15 Prozent der Stimmen, die Front National kann mit elf Prozent rechnen, die Kommunisten dürften bei 9 Prozent liegen.

Die Öko-Politiker wollen den „nationalen Betrug“ in letzter Minute auf juristischem Weg stoppen. Zugleich versuchen sie – und darin tun sie es ihren etablierten Kollegen gleich –, die unabhängigen Kandidaten auf ihre Seite zu ziehen. So hat Jean-Claude Patout von allen Seiten Angebote erhalten. „Sozialisten und Konservative sind zu mir gekommen und haben gesagt: Wenn du irgend etwas brauchst, dann helfen wir dir. Außerdem haben sie mir Vorschläge für meine berufliche Zukunft gemacht.“ Doch Patout ist nicht korrumpierbar. Jahrelang hat sich kein einziger Politiker für sein Schicksal interessiert – jetzt will er seinen Erfolg auch allein auskosten. Zwei Prozent der Stimmen würden ihm reichen, sein heimlicher Traum sind jedoch fünf Prozent, denn bei einem solchen Ergebnis würde ihm der Staat seine Wahlkampfkosten erstatten.

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