: Bleierne Ereignislosigkeit
■ Reinshagens „Die fremde Tochter“ in Basel uraufgeführt
Elli ist eine aufgeweckte junge Frau. Ihr Outfit wirkt flott, in den Augen blitzen Neugier und Spiellust. Die Tage im Büro, die Nächte im Club waren in Ordnung; auf die Dauer aber fehlt Orientierung. „Vergeuden“ will sie sich können. In der Stadt herrscht eine ominöse Fieberepidemie. Jetzt steht sie schick und selbstsicher vor den tristen Gestalten, die sie Kranke pflegen und Tote schleppen sah. Sie lümmeln in grauen Overalls an einer Wand, kokettieren mit Bildungslatein, brüllen sie an, verlachen sie als „Vorstadtköter“ und fordern ihren Schmuck.
Warum Elli (von Patrizia Schwöbel etwas konturlos gespielt) diesen „Poretanern“ dennoch angehören will, erfahren wir nach der Pause in der schönsten Sequenz des Abends: Kurz geschoren und unfähig zu sprechen, kommt sie zu ihren Eltern zurück und wird sofort zum kleinen „es“ degradiert, das die Mutter hysterisch wäscht und der Vater nicht in die Arme nehmen kann, wie die junge Frau es bräuchte. Hierher kann sie nicht mehr zurück, in ihrem Zimmer lauern die (etwas harmlos ausgefallenen) Monster der Kinderzeit. Das ist konkret gedacht und, vor allem von einem glänzenden Stephan Bissmeier als Vater, so präzise gespielt, daß es sogar den Umkipper ins Surreale trägt. Man genießt diese Momente um so mehr, als die zwei Stunden davor reichlich verquast daherkamen.
Denn im Grunde bietet Gerlind Reinshagen in ihrer „fremden Tochter“ eine griffige Geschichte: Junge Menschen haben genug von Sofaecken und Discoglitter und suhen Lebenssinn und Aufgabe. Weil sie die in der Gesellschaft nicht finden, schließen sie sich zu einer Gruppe zusammen. „Die Regel ist, daß wir keine Regel haben“, und „wir klären nicht, wir arbeiten“, lauten die Maximen. Wer damit nicht klarkommt und schreit, wird geohrfeigt oder abgespritzt. Doch alle tragen in sich, was sie fliehen wollen. Als das Fieber vorbei und Arbeit rar ist, brechen die Differenzen aus. Der Chef fühlt sich erleuchtet (was der junge Edmund Telgenkämper intensiv, aber zu distanzlos spielt) und terrorisiert die anderen mit Askese. Am schlimmsten trifft es Elli. Ihr hat er seine Sehnsucht nach Zweisamkeit gestanden. Sie weiß, daß sein Ideal schweigsamer und unerforschter Menschen nichts anderes ist als eine Reaktion auf die väterliche Therapiepraxis. Dafür wird sie jetzt mit einem Eß- und Sprechverbot belegt.
Gerlind Reinshagen hat immer wieder bekundet, daß sie in einer Zeit der „Kollektivmeinungen“ an Gruppenprozessen interessiert sei. Für sie gelte es eine Art „chorisches Drama“ zu entwickeln mit Bildern, die das „Myzel unzähliger Verflechtungen“ erfassen. Leider bleibt sie damit in der „fremden Tochter“ schon hinter den Kenntnissen der Fachdisziplinen zurück, geschweige denn, daß die prägnante Verdichtung einer Atmosphäre, einer Dynamik, einer Situation gelänge. Statt dessen gibt es einfache Polarisierungen, Platitüden und dann doch die braven Erklärungen, die sie vermeiden wollte. Da hallt ein bißchen das Jugendthema der Fleißer nach, auch die Überhitztheit der Lasker- Schüler. Camus ist nicht gar zu fern. Die alte Oda (eine Welt für sich: Nicola Weisse) ist neben vielem anderem auch eine Krapp-Inversion. Und der arme B.B. liefert für die Konfrontation von Individuum und Kollektiv das Muster. Alles bleibt vage; von Sekten über Kommunen bis zu Skins kann man vieles darin sehen, aber nichts erkennen. Die Leere, von der die Autorin gelegentlich spricht, lastet als bleierne Ereignislosigkeit über dem Stück.
Regisseur Christof Nel hält da, so gut es geht, dagegen. Er hat den Text (der ersten, tödlich endenden Fassung) um die ärgsten Sentimentalitäten und Pathosbekundungen erleichtert, die Gruppe – zum Teil gegen das Prinzip der „idealen Einsprengsel“ – gleich von Beginn an sehr zwiespältig gemacht und auf Vitaminpillen gesetzt: Ein Cellist mit elektronischem Gerät (Martin Schütz) sorgt vom Rande aus für so viel Dramatik, daß man ihn gerne alleine hören würde. Auf einer weißen, gebogenen Wand, die Barbara Bilabel auf die Bühne gebaut und mit Schlitzen und Griffen versehen hat, läßt sich's gut turnen. Aparte Gruppenbilder werden arrangiert. Bei den chorischen Sprechpartien vergißt man den Inhalt der Sätze. Und die schrille Freundin Anna-Lisa (eine erfrischende Michaela Steiger) läßt sich von der „Tranquilisierung“ nicht unterkriegen. Das rettet die Inszenierung über die Zeit, für einen anregenden Theaterabend bräuchte das Stück mehr Substanz. Gerhard Mack
Gerlind Reinshagens „Die fremde Tochter“ im Theater Basel. Inszenierung: Christof Nel, Bühne: Barbara Bilabel, Kostüme: Ilse Welter, Musik: Martin Schütz. Mit Patrizia Schwöbel, Marie-Lou Sellem, Edmund Telgenkämper u.a. Weitere Vorstellungen: 21. und 23.3.
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