: Massenweise Minderheiten
„Mistaken Identities“ im Folkwang Museum Essen: Eine Politik der Form, die sich gut lesen läßt ■ Von Brigitte Werneburg
Kann man es auch so sehen? Bedeutet die „Entdeckung“ des malerischen Nachlasses der UdSSR, dem momentan in diversen Ausstellungen gehuldigt wird, die Nostalgie für die Idee vom „großen Künstler“? Dank einer Form der Politik (Stalinismus), die sich in der Politik der Form (sozialistischer Realismus) direkt repräsentieren wollte, sind die Tatbestände Opposition und Widerstand, auf die das Konzept vom „großen Künstler“ nicht verzichten kann, dennoch eingebunden in das, was heute polemisch „kulturelle Hegemonie“ genannt wird; konkret, sie blieben im (meist schweren, vergoldeten) Rahmen der westlich-modernistischen Malerei.
Mit deren vermeintlichen Universalien und transzendenten Ansprüchen verbindet derzeit allerdings Opposition und Widerstand offenkundig nicht mehr viel. Die Mittel derer, die als rassisch, geschlechtlich, ethnisch, kulturell und sexuell „anders“ und mithin out of the mainstream gelten, sind die Medien Fotografie, Film, Video, Alltags- und Werbesprache, die nicht vorrangig mit dem Kanon der schönen Künste verbunden sind. Damit geht „die Abdankung des universellen Künstlers und die Geburt des spezifischen und historischen“ einher, wie Abigail Solomon-Godeau im Katalog der Ausstellung „Mistaken Identities“ schreibt, die gegenwärtig in der Fotoabteilung des Folkwang Museums in Essen zu sehen ist.
Diese Politik der Form ist die Chance der „anderen“, sich zu artikulieren, aber auch die „unsere“. Denn das gewichtigere Erbe des untergegangenen sowjetischen Imperiums ist eine massive Krise europäischer Identität: „ethnische Säuberung“, „stolz, deutsch zu sein“, so sehen die Phantasmagorien, Wahngebilde von mistaken identities aus. Einerseits.
Andererseits, „Identität ist wie das Gewand, mit dem man die Nacktheit des Ichs bedeckt. Wenn es sich aber so verhält, dann ist es am besten, wenn das Gewand lose fällt, ein wenig wie der Burnus der Wüste, durch den die Nacktheit stets gefühlt und manchmal auch gesehen wird. Dieses Vertrauen auf die eigene Nacktheit ist es, die einem die Kraft gibt, die Kleider zu wechseln“, malt Glenn Ligon schwarz in schwarz; und er malt als die Ausnahme, die die Regel bestätigt. „Baldwin=//4, das Gemälde von einem Text wie ein Gemälde als Text oder ein Text als Gemälde, tritt mit dem Zitat aus James Baldwins Essayband „Teufelswerk“ in den kritischen Dialog zur spätmodernistischen Abstraktion, etwa den schwarzen Bildern Ad Reinhardts. Indem Ligon seinen schwarzinschwarzen Kommentar mit einer Plexiglasscheibe abdeckt, in der sich Betrachter und Betrachterin beim Entziffern des Textes spiegeln, wird die postmoderne Obsession der Selbstreflexion im „Einschreiben“ der BetrachterInnen-Identität in die Bildfläche noch einmal reflexiv.
Der lockerfallende Burnus der Identität, von dem Baldwin träumt, scheint aber noch immer eher eine negative Tarnkappe zu sein. Unsichtbarkeit auf der einen und Hypersichtbarkeit auf der anderen Seite ist das Thema der Ausstellung. Mary Kelly geht es in „Corpus“ um die problematische Identität der alternden weißen Mittelschichtfrau. Drei Texttafeln, mit fiktiven Tagebuchaufzeichnungen, die Träume, tägliche Geschehnisse und Ängste reflektieren, die um die Erfahrung des Alterns kreisen, kontrastieren je mit der Bildtafel einer fotografischen Reproduktion einer Lederjacke. Das fetischisierte Kleidungsstück, Sichtbarkeit, die der Frau verlorengeht, wenn ihr die fetischisierten Attribute der Jugendlichkeit abhanden zu kommen drohen. Das anstelle der Künstlersignatur in der unteren rechten Bildecke eingefügte Chanel-Logo verweist auf die Akzeptanz käuflicher Legitimation (künstlerisch-)weiblicher Identität. Die kühle Arbeit bezieht sich auf Minimal und Concept-art. Aber auch dieser Verweis entbehrt des Sarkasmus' nicht: Status hilft, mancherlei weibliche Gebrechen zu vergessen.
Dem urbanen Kontext des low entstammt die Graffiti-Ästhetik von „What you lookn at?“ Die Foto-Text-Wand zeigt die Abbildung von fünf lebensgroßen jungen schwarzen Männern, die den Betrachter frontal und – wie es scheint – bedrohlich anblicken. Pat Ward Williams Fotoinstallation gibt dem dichten Gewebe aus Projektion und Phantasie, das der Anblick zusammengruppierter schwarzer männlicher Jugendlicher heraufbeschwört, exzessive Sichtbarkeit; die nämliche exzessive Sichtbarkeit, die sie, in der ihnen zugeschriebenen Identität der Verkörperung von Bedrohung und Gewalt, tagtäglich erleiden. (Wenn die Polizei allein deshalb aufmarschiert, weil sie im falschen Stadtteil ins Kino wollen.)
Die Politik der Form ist im Falle der iranischen Künstlerin Mitra Tabrizian und des weißen Briten Andy Golding mit ihren tableaux vivants die Form des Detektivromans und des film noir (!), die, wie in „The Interior“, auf Degas' „Intérieur“, auch als „Die Vergewaltigung“ bekannt, Bezug nehmen kann. Schwarze Protagonisten, die sehr oft im physischen und psychologischen Blickpunkt weißer Männer stehen: Die undurchschaubare Offenkundigkeit des film still, kombiniert mit den lapidaren Sätzen der detective novel, bringt den Film im Kopf zum Laufen: über Schuld und Unschuld, die Rolle des schwarzen Mannes bei Mord, Selbstmord, Aggression; setzt die Spekulation in Gang über die Frau, Opfer-Täter-Beziehung, auch in der Beziehung von Weiß und Schwarz. Obgleich diese hyperelegante Cibachrome/Text-Arbeit der drei Triptychen „The Blues“ deutliche Bezüge zur Massenkultur aufzeigt, ist sie nach Prinzipien konstruiert, die der Freudschen Traumarbeit analog sind. Die Verschiebungs- und Verdichtungsstrategien evozieren eine Aggressivität des Begehrens, die die Kunst – ob populär oder elitär – nicht entbehren kann.
Diese „fundamentale“ ästhetische Spannung durchzieht die ganze Ausstellung, die trotz der (angenehm) wenigen Exponate von allerdings fünfzehn Künstlern einen enormen Reichtum an Stilen, Werkauffassungen, Medien, Ideen der Narration, der Darstellbarkeit möglicher Utopien aufweist. Der verführerische ästhetische Reichtum der Arbeiten von Connie Hatch, Lorna Simpson, Carrie Mae Weems, Jimmie Durham, dem „universalen Cherokesen-Künstler“, Theresa Hak Kyung Cha, Yong Soon Min, Guillermo Gomez-Peña, Marlon Riggs, Armando Rascon und Adrian Piper macht anschaulich, daß er gesellschaftlicher Reichtum ist.
Unter dem Thema des multiculturalism wird dieser Reichtum auf der Biennale des Whitney Museums in New York vorgeführt. Da die amerikanische Biennale ein maßgebliches Barometer der dortigen zeitgenössischen Kunst ist, lohnt der Vergleich mit der Künstlerliste der Ausstellung in Essen, der belegt, daß der deutsche Besucher mit „Mistaken Identities“ auf dem neuesten Stand ist.
Eine Politik der Form ist auch die, die der Begriff politesse beinhaltet und auf die Adrian Pipers „My Calling (Card)=//1“ setzt. Das als soziale Interaktionsarbeit zu bezeichnende Kunstwerk besteht aus einer Visitenkarte, auf der als Beruf(ung) ein Text antirassistischen Inhalts die traditionelle Bedeutung einer solchen Karte kritisch mitevoziert. Als Ausdruck bürgerlicher Identität steht sie für die Versicherung, die Etikette zu wahren, die Höflichkeit, Respekt, Bescheidenheit und Takt als Verhaltensformen fordert, unabhängig von Klasse, Rasse, Geschlecht und ökonomischem Status.
Zurechtgemacht als „bürgerlich-adrette junge Miss“, zeigt Piper in ihrer Videoinstallation „Cornered“ eben jene Höflichkeit. Sie entfaltet explosive Sprengkraft, wenn das verdrängte Thema der „Rassenmischung“ in Statistiken genannt wird, die besagen, daß alle vorgeblich weißen Amerikaner zwischen fünf und 20 Prozent schwarzes Blut haben. Vermessen, gewogen, untersucht wird ein namenloses weibliches Subjekt/Objekt als Bürger des modernen Staates und dessen bürokratische Identitätszuweisung in der Videoarbeit von Martha Rosler, „Vital Statistics of a Citizen, Simply Obtained“. Völlig gegensätzlich zur kalten Rationalität dieser Videos steht schließlich Marlon Riggs „Tongues Untied“, die heftige, theatralisch wie poetische Affirmation der sozial dämonisierten Identität des „schwulen Schwarzen“. „Black men loving black men is the revolutionary act“: Politik der Emanzipation, die gegen eine Emanzipationspolitik steht, die, wie mit Louis Farrakhan, im Namen der Nation (of Islam) schwarze Identität in homophober Abgrenzung und Gewalt findet.
„Mistaken Identities“. Bis 31. März Museum Folkwang, Essen; 29.April bis 30.Mai Forum Stadtpark, Graz; 6. Juni bis 18. August Neues Museum Weserburg, Bremen. Katalog 34 DM
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