: Erinnerungen für ein ganzes Buch
■ Gesichter der Großstadt: Der Spielzeughändler Wilhelm Sefzik (80) folgte 1931 seinem Stiefvater in die Sowjetunion und arbeitete in einem Rüstungsbetrieb
Berlin. Es sind häufig Zufälle, die den Lebensweg eines Menschen bestimmen. Bei Wilhelm Sefzik war es das schlechte Gewissen, das ihm einen Beruf nahebrachte, an den der gelernte Modellschlosser und Kaufmann bis dahin nie gedacht hatte: Spielwarenhändler. Weil er nach dem Krieg russische Offiziere als Dolmetscher nach Chemnitz begleitete, blieb für seine Familie in Berlin wenig Zeit. So oft er konnte, brachte Sefzik seinem Sohn Spielzeug mit – der materielle Ausgleich für den häufig abwesenden Vater. Als er schließlich von einem notleidenden thüringischen Spielzeughändler, dem er Lebensmittel verschafft hatte, Spielwaren erhielt und damit am Heiligabend 1948 ein „glänzendes Geschäft“ machte, stand sein Entschluß fest: „Ich werde Spielzeughändler.“ Kurz darauf richtete er in der damaligen Bahnhofstraße 15 in Tegel – heute Grußdorfstraße – seinen Laden ein. Dort steht er noch heute, der Laden namens „Kindertraum“ und wird inzwischen von jenem betrieben, der einst an sein schlechtes Gewissen rührte: seinem Sohn.
Heute lebt Wilhelm Sefzik von seiner Rente, aber rastlos ist er geblieben, trotz seiner 80 Jahre. Wenn er aus seinem Leben erzählt, steht er auf, malt mit den Händen Situationen und Menschen nach, verliert sich in Details, bricht ab, sagt zu sich selbst: „Aber das hat ja hier nun wirklich nichts zu suchen.“ Sobald er in seinen Erinnerungen gräbt, werden immer neue Türen aufgeschlagen. Eine trägt das Datum 1931, das Jahr, in dem Wilhelm Sefzik nach beendeter Kaufmannslehre in Düsseldorf vor seiner Stiefmutter floh, mit der er sich nie verstanden hatte – sein Vater war im Ersten Weltkrieg gefallen, die leibliche Mutter Anfang der Zwanziger an einer Blutvergiftung gestorben.
Sefzik packte die Abenteuerlust, kaufte sich eine Schiffspassage und folgte seinem Stiefvater nach Leningrad, der dort seit 1930 im Rüstungsbetrieb „Bolschewik“ arbeitete. Dieser Schritt sollte Sefziks Leben verändern. In Leningrad trat der damals 18jährige dem kommunistischen Jugendverband, den Komsomolzen bei, wurde im Werk „Bolschewik“ zum Modellschlosser ausgebildet, lernte Russisch.
Die Ernüchterung über den Sozialismus folgte, als er feststellen mußte, daß „die russischen Arbeiter nur ein Zehntel dessen bekamen, was mir als Ausländer an Nahrungsmitteln zustand“. 1934, die Nazis regierten mittlerweile in Deutschland, kehrte er zurück, sein Stiefvater folgte kurz darauf. 1937 fand er schließlich als kaufmännischer Angestellter wieder Arbeit in einem Rüstungsbetrieb: bei Alket in Borsigwalde. Doch die Liebe zu Rußland und seinen Menschen ließ ihn nicht los. Im selben Jahr heiratete er Tamara, eine Deutsch-Russin, mit der er bis zu ihrem Tod vor drei Jahren zusammenleben sollte.
Mit den Nazis, sagt Sefzik heute, habe er nie sympathisiert. Seine Vergangenheit in der UdSSR verschwieg er. Als Hitler am 22. Juni 1941 die Sowjetunion angriff, habe er geweint, „sehr geweint“. Kurz vor Kriegsende wurde Sefzik eingezogen, lag bei Warschau, als im Januar 1945 die Großoffensive der Sowjets begann. „Da habe ich angefangen zu türmen“, erzählt er noch heute voller Stolz. Er ließ sich wegen eines Knieschadens krankschreiben, wurde von Lazarett zu Lazarett verlegt, kam schließlich im Sommer 1945 durch einen Trick frei.
Doch als er in Norddeutschland von der britischen in die sowjetische Zone illegal übertreten wollte, schnappten ihn russische Soldaten. Seine Sprachkenntnisse halfen nicht weiter – sie internierten ihn im ehemaligen Nazi-KZ bei Fünfeichen, aus dem er im August 1945 floh, um schließlich nach Berlin zurückzukehren. „Meine Frau Tamara hat immer gesagt, ich sei ein deutscher Schweijk gewesen“, sagt Sefzik heute rückblickend. Rußland hat ihn seit 1931 nie mehr losgelassen. Als im vergangenen Jahr Neukölln der russischen Stadt Puschkin half, sammelte er mit seiner zweiten Frau – ebenfalls eine Russin – auf eigene Faust 140 Pakete.
1991 reiste er ins ehemalige Leningrad, das nun wieder St. Petersburg heißt. Er besuchte noch einmal den Rüstungskonzern „Bolschewik“ und durfte, nachdem der Direktor eingewilligt hatte, auch den Ausstellungsraum betreten, in dem Miniaturmodelle vom Stolz der Firma künden. Den Panzer GT25, an dessen Entwicklung damals ein deutscher Ingenieur beteiligt gewesen war und den er mit seinem Stiefvater trotz strengster Geheimhaltung sehen durfte, fand er jedoch nicht unter den Exponaten. Auch die Wohnung in der Kinderstraße 3, wo er später in Leningrad gelebt hatte, gibt es nicht mehr – dort stehen heute Neubauten. Vieles ist verlorengegangen – was Wilhelm Sefzik bleibt, sind Erinnerungen. Sie reichen aus, wie er sagt, um „ein ganz dickes Buch zu schreiben“. Severin Weiland
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