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Ein rätselhafter, kein zufälliger Tod

■ Neunter Mauerschützenprozeß: 1968 starb Siegfried Krug am Brandenburger Tor

Berlin (taz) – Es ist wie eine dieser Geschichten, wo ein Mann das Haus verläßt, um Zigaretten zu kaufen, und niemals wiederkommt. Siegfried Krug kam niemals wieder. Bloß, er ging nicht Zigaretten kaufen. Er fuhr von Frankfurt am Main via Friedrichstraße nach Ost-Berlin und orderte ein Taxi zum Brandenburger Tor. Dort, der einzigen Stelle in Berlin, wo keine Mauer stand, begab er sich durch ein Drehkreuz in den Todesstreifen und wurde erschossen. Soviel steht fest. Alles andere bleibt dunkel. Kein Bild ergibt sich von dem Toten, unverständlich bleibt, weswegen der Grenzposten Helmut Hübner geschossen hat.

So geht es in dem neunten Mauerschützenprozeß nicht um die Rechtsfragen. Nicht darum, ob der Angeklagte den Grenzgesetzen entsprechend gehandelt hat und ob er sich auf einen Befehl berufen kann. In dem Prozeß vor der 31. Schwurgerichtskammer des Berliner Landgerichts geht es seit zwei Wochen um eine tödliche Episode im bestbewachten Grenzabschnitt östlich des Brandenburger Tores, um das Verhalten des Schützen Helmut Hübner und die Motive des Getöteten am 6. Juli 1968.

„Ich hörte eine MG-Salve“, schildert der Augenzeuge Hans Riese, der an dem fraglichen Tag mit seiner Frau in unmittelbarer Nähe des Brandenburger Tors spazieren ging. Aufmerksam geworden, lief das Paar direkt bis zur Absperrung. „Rund 20 Meter entfernt standen drei Soldaten im Halbkreis, davor ging jemand in Richtung auf das Brandenburger Tor.“ Auch nachdem die Soldaten Siegfried Krug aufgefordert hatten, stehen zu bleiben, ging er weiter. „Schließlich blieb er stehen, drehte sich um und ging langsam auf die Soldaten zu. Als er noch rund zehn Meter von ihnen entfernt war, fielen die Schüsse.“ Riese ergänzt: „Das merkwürdige war, daß er ein Lächeln auf den Lippen hatte.“

Frau van der Wee, die Schwester des Toten, hat wie dessen damalige Verlobte Johanna Richter erst 1991 von dem Tot Siegfried Krugs erfahren. Und weil es eben eine Geschichte ist wie die vom Zigarettenholer, glaubt sie heute noch, daß ihr Bruder am Leben ist. Sie kann es sich einfach nicht erklären, weshalb er „in den Osten wollte“. Auch die Verlobte ist ratlos. Das Aufgebot war schon bestellt, sie wollten in den nächsten Wochen heiraten. „Es gab eine Meinungsverschiedenheit, aber nichts Besonderes. Er ist nicht wütend gewesen. Dann sagte er, daß er noch etwas erledigen müsse“, und weg war er, auf Nimmerwiedersehen.

Die beiden Frauen haben sich den Kopf zerbrochen, nach Anhaltspunkten, die das Verhalten des Getöteten erklären könnten – ohne Ergebnis. Er war ein besonnener Mensch, nicht aufbrausend, nicht verrückt, kein Trinker. Es war weder ein Kindertraum von ihm, einmal in seinem Leben das Brandenburger Tor zu berühren, noch sprach er andauernd von der DDR. Weder hatte er alte Rechnungen zu begleichen, noch gab es einen ersichtlichen Grund, auf die DDR zornig zu sein. Deshalb vermutet Frau van der Wee, daß es sich bei dem Getöteten nicht um ihren Bruder handelt, daß er noch irgendwo lebt und sich eines Tages melden wird...

Und der Schütze, was war in ihn gefahren, daß er Krug erschoß? „Ich habe ihn angeschrien, anzuhalten“, sagt der Angeklagte. „Ich hatte Angst, daß er vielleicht bewaffnet sei.“ Dann schoß der damals 20jährige Hübner. Auf eine Entfernung von nur drei Metern, so die Staatsanwaltschaft, habe Hübner drei gezielte Schüsse abgegen, von denen zwei den Brustkorb und ein weiterer den Oberarm trafen. „Er sollte auf keinen Fall getroffen werden“, sagt der heute 46jährige. „Ich hatte die Waffe im Hüftanschlag, dann schoß ich. Ich dachte, ich würde die Beine des Mannes treffen.“

Die Waffe zog allerdings nach rechts oben und traf Siegfried Krug tötlich. Auch der Angeklagte erfuhr von dem tötlichen Ausgang erst nach der Wiedervereinigung. Sofort nach der Tat wurde er in seinen Jahresurlaub – plus drei Tage Sonderurlaub – geschickt und danach an einen anderen Posten versetzt, wie üblich.

An der Enthüllung, mit einem Vierteljahrhundert Verspätung, trägt der Mauerschütze sichtbar schwer. „Man muß die gesamte politische Situation bedenken“, sagt er „1968!“ Er hofft auf eine Bewährungsstrafe. Und seine Anwältin weiß: „Mein Mandant hat sich aufgegeben.“ Julia Albrecht

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