piwik no script img

Hoechst: Der Gigant zerbröselt

Bilanz des Jahres 1992 bei Hoechst/ Dramatischer Rückgang des Inlandergebnisses/ Vorstand Hilger will 3.000 Jobs abbauen  ■ Aus Höchst Klaus-Peter Klingelschmitt

Der um Contenance bemühte Vorstandsvorsitzende der Hoechst AG, Wolfgang Hilger, baute gestern noch vor der Vorstellung des Geschäftsberichts für 1992 vor: Fragen nach dem „Störfallkomplex“ sollten von den rund 300 JournalistInnen aus aller Welt, die gestern in die Jahrhunderthalle in Höchst gekommen waren, doch bitte erst nach den Fragen zur Lage der Firma gestellt werden. Hoechst sei zwar „in aller Munde“, so Hilger, doch nicht so, wie sich der Vorstand das vorgestellt habe.

Vorgestellt hat Hilger auf der Bilanzpressekonferenz dann einen Geschäftsbericht, der den Konzern tatsächlich nicht nur wegen der Störfallserie in den Schlagzeilen halten wird: Der Gigant vom Main bröckelt. „Das Betriebsergebnis der Hoechst AG erreichte 234 Millionen DM, das sind 418 Millionen DM oder 64 Prozent weniger als im Vorjahr.“

Und die Talfahrt geht weiter. In den ersten beiden Monaten des laufenden Geschäftsjahres liegt der Umsatz im gesamten Konzernbereich noch einmal fünf Prozent unter der Vorjahresmarke. Als alarmierend wertete Hilger dabei den „Einbruch im Inland“: minus 15 Prozent. Besonders stark gehe die Nachfrage bei Kunststoffen und PVC-Folien, bei Fasern, Chemikalien, Lacken, Kunstharzen und bei den für die Landwirtschaft bestimmten Produkten zurück. Auch in dem bislang als Wachstumsmotor geltenden Pharmabereich betrug das Minus 17 Prozent. Hilger dazu: „Wir haben bei der AG beim Ergebnis praktisch keinen Spielraum mehr.“

Die Zahlen sprechen in der Tat eine deutliche Sprache: ein Umsatzrückgang im gesamten Konzern von 2,8 Prozent oder 1,361 Milliarden Mark, ein Gewinnrückgang nach Steuern von 175 Millionen Mark auf 1,182 Milliarden Mark weltweit – und deshalb eine Kürzung der Dividende von 12 Mark auf 9 Mark für 1992. Daß der Konzern vom Gewinn nach Steuern nur 636 Millionen DM ausschüttet, liegt nicht zuletzt daran, daß der Vorstand mit dreistelligen Millionenbeträgen für die Finanzierung der von den Behörden nach der Störfallserie noch anzuordnenden Sicherheitsauflagen kalkulieren muß. Die Eigenbeteiligung für die Kosten der beiden großen Unfälle liegt bei 90 Millionen Mark. Beides wird den Aktionären auf der für Ende April anberaumten Hauptversammlung kaum schmecken.

Auf die miserable Ertragslage in Deutschland will der Konzern drastisch reagieren: „Schließung der Anlagen, die Verluste einfahren und bei denen keine Hoffnung auf das Erreichen der Gewinnzone besteht“. 3.000 Stellen sollen noch im laufenden Geschäftsjahr in Höchst, Griesheim und Offenbach abgebaut werden. Bereits im abgelaufenen Geschäftsjahr hat die AG 4.100 MitarbeiterInnen abgewickelt – zum Teil durch Frühpensionierungen und Umsetzungen. Zur Zeit arbeiten AG-weit bereits 3.900 Beschäftigte kurz. Und Hilger kündigte mehr Kurzarbeit für das PVC-Folienwerk in Gendorf und bei der Hoechst-Tochter Herberts an.

Den Vorwurf, daß die Hoechst AG mit dem Gedanken spiele, aus Kostengründen – und wegen der Umweltschutzauflagen – ganze Produktionsbereiche in Billiglohnländer mit minimalstem Umweltschutzstandard zu verlagern, wies Hilger dagegen in der Fragenrunde weit von sich. Man werde sich am Standort Deutschland mit zukunftsträchtigen Investitionen nicht zurückhalten, versicherte der Konzernchef. Und das gelte auch für die neuen Bundesländer. „Renditebringende Projekte“ hätten dabei allerdings Vorrang. Für den Erwerb von Beteiligungen in Ostdeutschland hat der Konzern im Berichtsjahr 325 Millionen Mark aufgewendet. Bis Ende 1996 sollen weitere Investitionen in Höhe von 550 Millionen Mark getätigt werden.

Und dann kamen – noch vor dem Run auf die Schnittchen und die Kulturbeutel mit Hoechst-Kosmetika – doch noch die unangenehmen Fragen nach der Störfallserie auf den Vorstandstisch. Hilger beruhigte: „Umfangreiche Sicherheitsinvestitionen“ würden in Absprache mit den Behörden und dem TÜV demnächst getätigt. Und das besondere Augenmerk des Vorstandes gelte dem „Faktor Mensch“. Dabei wies Hilger die Vorwürfe, daß Hoechst seine komplexen und komplizierten Anlagen mit zuwenig Personal betreibe, schroff zurück: Das Gegenteil sei der Fall. Weil diverse Anlagen bereits stillgelegt wurden, ohne daß entsprechend Personal abgebaut worden sei, komme es in vielen Produktionsbereichen gar zu Überbesetzungen. Bei den wenigen Betriebsräten, die zur Bilanzpressekonferenz geladen waren, verkrampfte sich die Backenmuskulatur. Als dann noch der für Personalfragen zuständige Vorständler Justus Mische die innerbetriebliche Schulung über den Klee lobte, war die Bilanzpressekonferenz endgültig gelaufen. Das schönste Bonmot des Tages fand sich allerdings im Geschäftsbericht: „Die Umweltbelastung durch unsere Produktion ist weiter zurückgegangen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen