piwik no script img

■ Kürzlich in Moskau entdeckte und jetzt herausgegebene Dokumente aus Wehners Kaderakte entfachen aufs neue die Diskussion über Schuld und Verantwortung derer, die in das Räderwerk eines totalitären Systems gerietenDas Rätsel Herbert Wehner

Moskau 1937, in den Tagen der Inquisition. Im Hotel Lux, dem Emigranten-Silo, aus dem täglich KommunistInnen abgeholt werden – die meisten ohne Wiederkehr –, treffen die österreichischen Kommunisten im Exil, Ernst Fischer und seine Frau Ruth von Mayenburg, den Exilanten Herbert Wehner, ZK-Mitglied, Kadername Kurt Funk. Die Weltrevolutionäre sitzen in einer Falle. Jeder mißtraut jedem, jeder mutmaßt alles über jeden, manche Kommunisten stürzen sich aus nackter Verzweiflung selbst aus dem Fenster, um den todbringenden Verhören zu entgehen. Fischer schreibt später über den Herbert Wehner jener Tage: „Der Panzer dieses Hasses schützte einen höchst widerspruchsvollen Menschen, die Koinzidenz anarchischer Leidenschaft und fast pedantische Organisiertheit, Freiheitstrieb und Wille zur Macht, Wunsch nach Wärme und schroffe Verschlossenheit, ein In-sich-Verbissensein und Explosionen des Zornes, brüllender Ausbruch aus der Einsamkeit eines nach Gemeinschaft sich Sehnenden. Er hatte Fieber. Seine ungemein sympathische Frau und ich gingen in die Küche, um Kaffee zu kochen. Als wir zurückkamen, saß er aufgerichtet auf der Couch mit seiner Gitarre und schrie wilde zusammenhanglose Strophen. Er war wie ein Kessel ohne Ventil, mußte, um sich zu befreien, von Zeit zu Zeit in Sprengstücken auseinanderfliegen. Er schluckte viel in sich hinein. Was in Moskau geschah, mißfiel ihm. Die meisten seiner Genossen waren ihm zuwider.“

In jener Nacht der wilden Gesänge wurde Herbert Wehner vermutlich ein anderer. Denn später in dieser Nacht holten die Moskauer Genossen den deutschen Genossen Funk zu einem „Gespräch“ bei der Untersuchungskommission ab. Auch er war denunziert worden.

Einige Tage später schrieb Kurt Funk seine Antwort auf die 44 hochnotpeinlichen Auskunftsersuchen der Kaderkommission. Kalt und schlau, im Ton äußerst korrekt sind diese Antworten, sie zeugen von einer intuitiven Genialität. Sie sind eine einzige genau gezielte Denunziation seiner Widersacher. Nackter Sozialdarwinismus – und reinste Amoralität. Diesem Kader steht jetzt nichts mehr im Wege. Er will und wird überleben.

Reinhard Müllers Buch: „Die Akte Wehner, Moskau 1937 bis 1941“ ermöglicht einen Blick in einen Menschenabgrund – und in eine Zeit, die ferner scheint als das Mittelalter mit seinen Scheiterhaufen. Fakten, Namen, Maßnahmen, und immer wieder: Berichte in einer Sprache, die ein einziges Rätsel bleibt bei einem so sprachgewaltigen und sensiblen Menschen. Es ist Sklavensprache; Sklavensprache mit herrischem Gestus. Es wimmelt geradezu von Ausdrücken wie: „schlechte Elemente abstoßen [...] Schädlinge ausgrenzen... Hat vergiftende Tätigkeit und Zersetzungsarbeit geleistet...“ Wehner liefert reihenweise Charakteristiken von KP-Genossen, deren mildeste Form der Nachweis von ideologischen Schwankungen, die schärfste Form das Urteil ist: „...ein Beweis von moralischer Fäulnis, die ungeheuerlich ist“. Dokument um Dokument Futter für den Moloch, eine nicht endende Reihe von subtilen Brandmarkungen durch einen, der den ganzen Führungskreis der illegalen KPD im In- und Ausland genau kannte.

Was machte ihn so willfährig, über die eigene Bedrohung hinaus? War es ein Prozeß moralischer Selbstauslöschung? War es die ausweglose Situation in einem Gehäuse der Hörigkeit? Wehner selbst hat in seinen „Notizen“ aus dem Jahre 1946 (von ihm selbst für Schumacher verfaßt, 1968 als Raubdruck vertrieben) die Deutung angeboten, er habe sich aus der Todesbedrohung nur retten können, indem er seinerseits seine Denunzianten denunzierte.

Es entsprach der Logik dieser Legende, daß fortan jedes Gerücht über seine Moskauer Zeit als Rache gegenüber einem Abtrünnigen zu interpretieren war. Noch der neuste Spiegel legt nahe, Wehner sei ein „Master of the System“ gewesen, der den Stalinschen Geheimdienst mit seinen eigenen Methoden austrickste, indem er dem Apparat seine eigenen Spitzel zum Fraß vorwarf. So läßt sich der junge Wehner allein mit den Augen der Liebe für den Alten deuten, für den genialen Strategen. Vom Anfang her liest es sich anders: Wehner, dieser faszinierendste Politiker der deutschen Nachkriegsgeschichte, war 1937 ganze 31 Jahre jung und hatte schon mindestens zwei radikale Lebensbrüche hinter sich. Er war sein Leben lang nie etwas anderes gewesen als Funktionär: erst Sozialist, dann Anarcho-Syndikalist im Umkreis von Erich Mühsam – was ihn später für die KP-Orthodoxie immer ein wenig verdächtig machte –, dann Kommunist. Er stieg innerhalb der KPD-Hierarchie als einer der jungen Genossen Stufe für Stufe aufwärts, bis er ZK-Mitglied und Kandidat des Politbüros war, ganz dicht an seinen Heroen Teddy Thälmann und Dimitroff. Bei der Verhaftungswelle in der Illegalität wurde er als einziger von allen verbliebenen ZK-Sekretären nicht gefaßt – was ihn noch einmal verdächtig machte. Und immer war er dabei, wenn ideologisch wieder eine neue, noch „korrektere“ Linie ausgegeben wurde, der Hochbegabte mit dem untrüglichen Macht- und Überlebensinstinkt.

Es gibt keinen Zweifel und keine angenehmere Erklärung mehr: In den Jahren nach 1936 in Moskau war Wehner ganz eindeutig ein aktiver Stalinist, der auch den Hitler-Stalin-Pakt schluckte wie Wodka. Und unter ihm, der ganz oben stand, neben Ulbricht und Pieck, geschützt von Dimitroff, den er verehrte, wurden die deutschen Kommunisten in Scharen verhaftet, ohne daß er auch nur gewagt hätte, zu protestieren.

Wehner reiste 1941 mit einem genehmigten Dokument und mit Partei-Kontrollauftrag nach Schweden aus. Dort ereilte ihn – zu Unrecht, wie man heute weiß – der Verratsvorwurf der Moskauer Zentrale und damit der schmähliche Parteiausschluß. Es folgten: weitere Lebensbrüche. Es folgte: wieder ein anderes Leben.

Herbert Wehner hat in seinen letzten Lebensjahren infolge einer schweren Diabetes sein Gedächtnis fast vollständig verloren, er verfiel einer alzheimerähnlichen Orientierungsunfähigkeit. In den Akten wird er wiederholt wegen seines absolut unbestechlichen und unfehlbaren Gedächtnisses gerühmt.

Was für ein gnädiger Zufall: Es war schon vor dem physischen Tod erloschen, jenes Gedächtnis, das zuviel aufbewahrt hatte. Man hätte also auch damals nicht mehr fragen können. Es gibt keine Antwort mehr. Nicht einmal auf die Frage, wie einer, der sich selbst so viel vergeben hat, so überzeugt an der Berufsverbots-Praxis der sozialliberalen Koalition teilnehmen konnte. – Ach, manchmal wünschte man diese ganzen verdammten Akten zum Teufel. Man wird so dumm beim Lesen. Antje Vollmer

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen